Stern

Datum: 43/2005
Fotos: Peter Aswendt, R. Stoetzel, Michaela Lüttringhaus

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Welche Größe hätten Sie denn gern?

Hinter dem Verkäuferinnen-Satz "Die Sachen fallen nun mal sehr unterschiedlich aus" steckt eine schlichte Wahrheit: In der Modeindustrie herrscht Konfektions-Chaos. Gerade Luxuslabels gaukeln ihren Kundinnen Traummaße vor

Spaß sieht anders aus: Wenn Frauen Klamotten kaufen, verschwinden sie mit einem Stapel Blusen, Hosen und Tops in der Kabine. Meist passt auf Anhieb erst einmal nichts. Also wieder hinaus aus dem Umkleidebereich, auf Socken Nachschub in allen entfernt möglichen Größen holen. Nach den Strapazen der Anprobe findet die Kapitulation vor dem Spiegel statt: Die Bluse spannt über der Brust, das Top schlackert an der Taille, die Hose schneidet ins Bauchfleisch und schlabbert am Po. Die Worte der mitleidigen Verkäuferin geben den Rest: "Die Sachen fallen einfach sehr unterschiedlich aus." Auf ins nächste Geschäft.

Es ist nicht Freude, die uns so ausdauernd durch die Modeläden streifen lässt, es ist Frust. Die Feldforschung eines Herstellers ergab, dass im Schnitt 17 Anproben nötig sind, um die passende Jeans zu finden. Jede dritte Frau jammert laut einer Statistik des Fachblatts "Textilwirtschaft", dass sie nichts findet, was richtig sitzt. Aber wie kommt es, dass die 38 mal zu weit, dann die 40 zu klein ausfällt? Nehmen wir ständig ab und zu?

Die Wahrheit ist: Die Designer lügen uns an. Modemacher wissen nämlich, wie eitel Frauen sind. Die 36 gefällt ihnen besser als die 38. Und eine 42 versetzt sie eher in Euphorie als eine 44. Also wird geschummelt; unmerklich weiten sich die Schnitte bei gleicher Größenangabe.

In Amerika heißt dieses Phänomen "vanity sizing", bei uns Schmeichelgrößen. Der Etikettenschwindel wurde bereits wissenschaftlich untersucht. Forscher der Universität Nordtexas wühlten sich durch mehr als 1000 Frauenhosen und kamen zu dem Ergebnis: Der Unterschied zwischen Standard- und Pseudogrößen ist enorm. Bei verschiedenen Modellen und Marken variierte dieselbe Konfektionsangabe um bis zu 33 Zentimeter. Die "manipulierten" Stücke kosteten dabei durchschnittlich mehr als die ehrliche Ware und hingen besonders häufig in Designerläden. Für eine Nummer kleiner gibt die Kundin anscheinend gern ein bisschen mehr aus.

Auf dem Kleidermarkt herrscht Anarchie: Kaum ein Designer hält sich an die vorgegebenen Maßtabellen, die meisten haben mittlerweile ihre eigenen Größensysteme eingeführt: "Niemand will sich gleichmachen lassen. Größen- und Passformpolitik gehören zur Markenidentität", sagt Thomas Rasch vom Verband German Fashion, zu dessen Mitgliedern unter anderem Escada, Boss und Talbot Runhof zählen.

Einige Modemacher schneidern sich so ihre Zielgruppe zurecht: Kräftig gebaute Männer dürften sich zum Beispiel bei Prada diskriminiert fühlen. Eine Frau mit ausladendem Busen und Hintern sollte Jil Sander meiden - zu erniedrigend. Manche Damen wollen die Hersteller auch gar nicht anziehen. So sagt etwa Hans Schleicher, der als technischer Leiter von Produktion und Logistik bei Strenesse arbeitet: "Da wir sehr zielgruppenorientiert arbeiten, wird zwangsläufig nicht jede Frau in unsere Kleidung passen."

Die Deutschen werden immer länger und breiter. Dabei verteilt sich das Gewicht aber nicht auf den ganzen Körper, sondern sammelt sich an Hüfte und Taille. Die Proportionen verschieben sich. "Die Leute werden größer und schwerer. Bei den Frauen gibt es außerdem eine Tendenz zur Tonnenform", sagt Elfriede Kirchdörfer von den Hohensteiner Instituten in Bönnigheim, die mit den deutschen Messungen beauftragt sind. Außerdem haben die Frauen enorm an Brustumfang zugelegt. Was neben der Antibabypille auch an der steigenden Begeisterung für Implantate liegen dürfte.

Damit die Mode mit uns Schritt halten kann, müssten wir am besten alle zehn Jahre vermessen werden. Bei den deutschen Männern jedoch wurde zum letzten Mal in den 60er Jahren Maß genommen. Seitdem sind sie um rund sechs Zentimeter gewachsen und haben einiges an Gewicht zugelegt.

Auch die aktuellen Werte der Damen sind elf Jahre alt. "Die Industrie hat ganz überwiegend kein Interesse, eine Reihenmessung zu finanzieren", erklärt der Verbandsmann Thomas Rasch. "Viele Firmen sagen: Wir kennen unseren Kunden. Wir bekommen jeden Tag Rückmeldungen, ob etwas passt oder nicht." Allerdings geht wohl kaum jemand bei Tom Tailor an die Kasse, um seine Problemzonen zu Protokoll zu geben. Das Passform-Dilemma erfreut derweil die Änderungsschneidereien.

Martin Rupp von den Hohensteiner Instituten, die seit 1957 die Deutschen vermessen, fordert dringend neue Reihenmessungen: "Nur noch 20 Prozent der Frauen passen heute überhaupt in Standardgrößen wie 36, 38, 40." Die Formel, nach der sie errechnet werden, stammt aus den 50er Jahren: Der Brustumfang wurde durch zwei geteilt und ergab die Kleidergröße für den Mann. Bei den Damen war man diskreter und zog noch sechs Punkte vom Ergebnis ab. Eine 42 verschlüsselt demnach eine Oberweite von 96 Zentimetern.

Auf dem internationalen Modemarkt ist der Wirrwarr noch gewaltiger: Unsere 38 ist bei einer französischen Marke wie Lacoste eine 40. Bei den Italienern Sisley brauchte man eine 44. Die Engländer nennen unsere 38 entweder 12 oder 36, die Amerikaner sagen 8. Bei Hosen kennen sie nur die Angabe in Inches. Dann ist die 38 ungefähr eine 29, könnte aber auch eine 30 sein. Und XS, S, M, L, XL grenzen eh an freie Meinungsäußerung.

Jetzt soll eine EU-Norm für Übersicht sorgen. Bereits vor zehn Jahren beauftragte das "Europäische Komitee für Normung" eine Arbeitsgruppe, die konfektionelle Vereinigung zu erarbeiten. Zurzeit beraten die Experten über eine Codierung der Kleidergröße. Heraus kämen Angaben wie 324 oder 284 - bis zu 15 000 Varianten an Größen sind möglich, mit denen sowohl die kleinen Portugiesen wie auch die langen Schweden bekleidet werden können. Ergebnisse sind ab 2008 zu erwarten. Selbst dann könnte jeder Designer weiterhin machen, was er will - Kleidergrößen sind schließlich keine Gesetze.

Die gute Nachricht zum Schluss: Für Herbst und Winter sind die Schnitte insgesamt voluminöser ausgefallen.