Komm nicht vom Weg ab
Wer hat Angst vorm bösen Wolf? Allgemeines
Gähnen … Märchenexperte Oliver Geister erklärt,
warum die schaurigen Geschichten dennoch
relevant sind – und wie ihnen die Erotik abhanden kam
Herr Geister, Sie waren gerade auf
einer Märchentagung. Hexen und
Feen getroffen?Nein. Bei solchen Kongressen geht es
ja eher um wissenschaftliche Fragen.
Kann man aus den alten Geschichten
denn noch Neues herausholen?Auf der Tagung wurde zum Beispiel
über die Bedeutung der schönen, auf
den Prinzen wartenden Prinzessin
diskutiert. Ist sie noch zeitgemäß?
Oder darüber, ob man als Märchenerzähler:
in die Geschichten gendersensibler
vortragen sollte.
Wer veranstaltet sowas?Die Europäische Märchengesellschaft
– eine der größten literarischen
Gesellschaften in Deutschland.
Die Brüder Grimm haben im
19. Jahrhundert Märchen gesammelt
und aufgeschrieben, damit sie
nicht in Vergessenheit geraten.
Diese Tradition soll aufrecht erhalten
bleiben. Dafür engagieren sich
in der Märchengesellschaft Märchenerzähler,
Autoren und Forscher.
Sie selbst sind Märchenpädagoge.
Wie kamen Sie dazu?Ich habe Germanistik und Pädagogik
studiert und mich darüber gewundert,
dass die „Kinder- und
Hausmärchen“ der Brüder Grimm
– das einflussreichste pädagogische
Buch überhaupt – so wenig in der
Erziehungswissenschaft vorkommt.
Psychologie, Germanistik und Volkskunde
beschäftigen sich alle mit
Märchen – ausgerechnet in der
Pädagogik finden Rotkäppchen und
Dornröschen kaum statt.
Und dann?Ich habe initiiert, dass ich an der
Universität Münster regelmäßig
Seminare zum Thema Märchenpädagogik
gebe.
Wenn bei Rotkäppchen der Wolf
eine bettlägrige Alte frisst oder die
Stiefmutter Schneewittchen umbringen
lässt und zum Beweis ihre Leber
und Lunge verspeisen will, ist das
ganz schön grausam und scheint
nicht pädagogisch wertvoll.Trotzdem werden Sie kaum jemanden
finden, der Märchen für die
Erziehung ablehnt.
Warum eigentlich nicht?Weil sie sich für Kinder besonders
gut eignen: Sie sind kurz, einfach
und linear erzählt. Durch klare
Gegensätze wie Jung und Alt, Arm
und Reich, Gut und Böse können
Kinder die für sie noch unübersichtliche
Welt besser sortieren. Und weil
das Gute am Ende siegt, haben
Märchen immer etwas Positives.
Und Eltern müssen nicht mit alptraumgeschüttelten
Kindern rechnen?Naja, ich würde nicht alle Märchen
kleinen Kindern erzählen. Aber
wenn etwa dem Wolf im Märchen
der Bauch aufgeschlitzt wird, dann
erfahren die meisten Kinder das
nicht wörtlich als Grausamkeit.
Zumindest kann ich mir kaum ein
Kind vorstellen, das sagt: Nein, das
geht nicht, das ist Tierquälerei.
Das sagen Sie …… aus gutem Grund: Zum einen
schildern Märchen Grausamkeiten
recht neutral. Sie werden nur benannt,
ohne dass man sich daran
weidet. Zum anderen fassen Kinder
die Szenen eher positiv auf, weil sie
meistens eine Gefahr bannen. Wenn
die Hexe im Ofen verbrennt, verbrennt
in der Vorstellung der Kinder
nicht unbedingt eine reale Person,
sondern das Böse wird vernichtet.
Manche Szenen sind dennoch brutal.Ja, zum Beispiel die Schlussszene
von Schneewittchen: Die Stiefmutter,
die mehrere Mordanschläge auf
ihre Stieftochter verübt hat, muss
sich bei der Hochzeit in glühenden
Pantoffeln zu Tode tanzen. Schneewittchen
ist trotzdem das beliebteste
Märchen der Deutschen.
Alle haben halt den lustigen Disneyfilm
im Kopf.Ein grandioser Film. Walt Disney
war ein großer Märchenfan. Als er
einst in Deutschland war, kaufte er
viele Märchenbücher. Das Märchenschloss
in seinem Logo hat als Vorbild
Schloss Neuschwanstein.
Warum sind Märchen denn ursprünglich
überhaupt so grausam?Drastische Bestrafungen, Folter,
Hinrichtungen gehörten zu der Zeit,
als die Märchen mutmaßlich entstanden
sind, zur Lebenswirklichkeit.
Genau wie die Hungersnot bei
Hänsel und Gretel. Und mit Schneewitchens
Zwergen sind wohl Kinder
oder Kleinwüchsige gemeint, die in
Bergwerken ausgebeutet wurden.
Sind Grimms Märchen besonders
gruselig?Ja, auch im internationalen Vergleich.
Englische Wissenschaftler
haben nach dem Zweiten Weltkrieg
sogar behauptet, die deutschen
Soldaten seien besonders barbarisch
gewesen, weil sie mit den Märchen
der Grimms sozialisiert wurden. Das
hat sich später als haltlos erwiesen.
Das brutalste Märchen?Ich finde „Fitchers Vogel“ heftig.
Klingt erstmal ganz nett.
Warten Sie es ab. In der Geschichte
werden nacheinander drei Schwestern
von einem Zauberer entführt.
Jedes der Mädchen bekommt einen
Schlüssel zu einer Kammer, die es
auf gar keinen Fall öffnen darf. Die
ersten beiden schauen trotzdem
nach und finden einen Raum voller
geschlachteter Menschen vor. Sie
werden vom Zauberer erwischt, der
sie ebenfalls tötet und in der Kammer
aufhängt. Nur die dritte schafft
es, beim Öffnen der Kammer unentdeckt
zu bleiben.
Dagegen ist Rotkäppchen Pillepalle!Beides sind Warn- und Schreckmärchen.
Rotkäppchen hat man erzählt,
um Kindern zu vermitteln: Komm
nicht vom Weg ab, lass dich nicht
ansprechen. In „Fitschers Vogel“
wird Neugierde bestraft.
Aber am Ende siegt das Gute?Ja, so wie es sich für die meisten
Märchen gehört. Bei „Fitschers
Vogel“ kann das Mädchen ihre toten
Schwestern wieder zu lebenden
Menschen zusammenzusetzen, und
der Zauberer verbrennt.
Was ist noch typisch für Märchen?Das klassische Zaubermärchen hat
keinen klaren Ort- und Zeitbezug.
Dafür gibt es das bekannte Märchenpersonal:
Prinz, Prinzessin,
Königin, Handwerker wie der Müller.
Und wenn ein einfacher Mensch
auftaucht, heißt der meist Hans,
weil es damals der häufigste Name
war. Diese Figuren sind keine Charaktere,
sie stehen für Eigenschaften.
So ist der Wolf immer böse und
gefährlich. Hinzu kommen irreale
Figuren wie Hexen. Naturgesetze
werden außer Kraft gesetzt. Und der
Held wundert sich nicht groß darüber,
dass ein Frosch ihn anspricht.
Ursprünglich sind Märchen unter
Erwachsenen erzählt worden.
Richtig, anfangs dienten sie der
Unterhaltung. Dann nahm das
Pädagogische an Bedeutung zu.
Wilhelm Grimm hat den überlieferten
Ur-Fassungen nach und nach
wünschenswerte Tugenden hinzugefügt
und sie ent-erotisiert.
Märchen waren mal erotisch?In älteren Ausgaben wird Rapunzel
zum Beispiel schwanger. Dass der
Prinz sie im Turm schwängert, hat
Wilhelm Grimm aber nicht gefallen.
Es wurde immer weniger thematisiert,
bis Rapunzel zuletzt nur noch
fragt: Warum passen mir meine
Kleider nicht mehr, Frau Gothel?
Was hat er sonst noch verändert?Etwa, dass bei Hänsel und Gretel die
Stiefmutter und nicht die Mutter
ihre Kinder im Wald aussetzt.
Ist Wilhelm Grimm verantwortlich für
den schlechten Ruf der Stiefmütter?Kann man so sagen. In den Urfassungen
der Märchen war nie von
einer Stiefmutter die Rede. Wilhelm
konnte es wohl nicht ertragen, dass
leibliche Mütter so grausam sind.
Sie haben ein Buch darüber geschrieben,
dass Märchen im Dritten
Reich als Propagandainstrument
genutzt wurden. Wie das?In einem Film von 1935 wurde der
gestiefelte Kater mit folgenden
Worten gelobt: „Heil dem Kater
Murr!“ Mit Märchen vermittelten
die Nationalsozialisten im Zweiten
Weltkrieg ihre Tugenden wie bedingungslosen
Gehorsam, Tapferkeit,
Kampfesbereitschaft. Dabei haben
die Brüder Grimm ihre Märchen
bewusst nicht „deutsche Märchen“
genannt. Denn das sind sie nicht:
Die Quellen sind international.
Aber die Grimms reisten übers Land,
um deutsches Kulturgut einzusammeln.Das ist die weit verbreitete Annahme.
Die Brüder haben sich die Märchen
aber bequem zu Hause erzählen
lassen – von überwiegend jungen,
gebildeten Frauen. Diese sprachen
Französisch, weshalb viele
Märchen, etwa Rotkäppchen, ihre
Quellen in Frankreich haben.
Rotkäppchen ist Französin?Ursprünglich ja.
Bekommt man einen anderen Blick
auf die Welt, wenn man sich jeden
Tag mit Märchen beschäftigt?Ich wünschte ja. Aber es gelingt mir
nicht so gut, die märchenhafte
Gelassenheit, dass sich am Ende
alles irgendwie zum Guten wendet,
mit in den Alltag zu nehmen.
Brauchen wir Märchen wirklich?Ich bin natürlich überzeugt, dass
Märchen uns nützen, würde aber
nicht so weit gehen, dass Kindern
ohne Märchen in der Erziehung
etwas fehlt. Man kann auch ohne
Märchen ein gutes Leben führen.
Aber?Goethes Faust ist nicht jedem ein
Begriff, Dornröschen schon. Man
könnte in den klassischen Märchen
den letzten Rest unseres gemeinsamen
Bildungskanons sehen. Das hat
doch etwas sehr Verbindendes.