Barbara

Datum: 01.10.2021
Fotos: Jann Höfer

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Auf einen Schlag

Wer von einem Blitz getroffen wird und überlebt, trägt meist schwerste körperliche Schäden davon. So wie Lena Cornelissen, deren Leben sich aus heiterem Himmel veränderte. Sie sagt, nicht nur zum Schlechten

Als ich vom Blitz getroffen wurde, schien die Sonne. Das war Ostermontag 2019. Ich habe als Freiwillige in einem Kindergarten in Bolivien gearbeitet und stand gerade im Garten, um Wäsche aufzuhängen. Dann schlug plötzlich ein sogenannter Trockenblitz ein. Wahrscheinlich fand das Gewitter hinter den Bergen statt. Das passiert auch in Deutschland immer mal wieder.

An den Unfall kann ich mich nicht erinnern. Mein Gehirn hat verdrängt, was für mich unerträglich wäre. Andere Kolleginnen und Kollegen haben mir später erzählt, was passiert war: Die Wäscheleine aus Draht hat den Blitz angezogen und sich um mich gewickelt. Ich habe Feuer gefangen und geschrien. Die anderen kamen angerannt, haben mich gelöscht, reanimiert und beatmet. Es muss schrecklich gewesen sein. Eine meiner Lebensretterinnen hat danach den Kontakt abgebrochen. Mein Anblick würde sie zu sehr daran erinnern, wie ich brennend auf der Wiese lag.

Es ist wahrscheinlicher, einen Blitzschlag zu überleben, als daran zu sterben. Es kommt darauf an, wie man getroffen wird. Bei mir fuhr der Blitz in die Hände und trat an den Füßen und Beinen wieder aus. Er ging einmal komplett durch mich durch. Meine Haare waren nass, weil ich gerade geduscht hatte, ich trug keine Schuhe, dafür Kopfhörer in den Ohren und mein Handy in der Hosentasche – alles perfekte Leitbedingungen für einen Blitz.

Bei mir ist ziemlich viel verletzt worden. Nach dem Unfall war ich vier Monate im Krankenhaus. Heute habe ich Verbrennungsnarben am ganzen Körper, chronische Schmerzen in den Gelenken. Meine Ohrmuscheln mussten amputiert werden, auch wegen der Kopfhörer, die ich trug. Nicht nur deswegen habe ich bis heute Probleme beim Hören und trage Hörgeräte. Seit dem Unfall hatte ich deutlich mehr als 20 Operationen, ich weiß es nicht genau. Bislang war ich vier Mal in der Reha. Die neurologischen Schäden beschränken sich zum Glück auf meine Mobilität – ich laufe am Rollator, manchmal am Gehstock.

Zehn Tage nach dem Unfall konnte ich endlich von Bolivien nach Deutschland ausgeflogen werden. Zwei Tage zuvor wurde ich aus dem künstlichen Koma geholt, denn die Ärzt*innen vor Ort dachten, nur wache Patient*innen könnten ausgeflogen werden. Ich war nicht wach im üblichen Sinne, aber ich habe mitbekommen, was passiert ist. Auch wenn ich die Situation wohl anders wahrgenommen habe als andere Beteiligte. Ich hatte unvorstellbare Schmerzen, war völlig verzweifelt und hilflos. Das Schlimmste war, dass ich mich nicht mitteilen konnte. Ich habe gegen die Verbände und die Schläuche, die in meinem Körper steckten, gekämpft. Noch auf dem Rückflug wurde ich erneut ins künstliche Koma versetzt. In der Zeit habe ich geglaubt, ich sei gestorben, es fühlte sich so an, als sei ich mehrere Jahre lang tot und in der Hölle gewesen, dabei waren es insgesamt „nur“ vier Wochen. Ich bin nicht wirklich gläubig, aber mein Gehirn hat sich da irgendetwas zusammengebastelt. Und obwohl ich Multi-Organversagen, eine schwere Blutvergiftung und 15 Liter Wasser im Körper hatte und es einen Moment gab, an dem sich alle von mir verabschieden sollten, wage ich zu bezweifeln, dass die Realität so schlimm war wie das, was in meinem Kopf abging. Nachdem man mich zurückgeholt hatte, brauchte ich lange, um zu realisieren, dass ich noch lebe.

In meinen Diagnoseblättern steht „posttraumatische Belastungsstörung mit depressiven Episoden“. Ich habe vieles, was dazugehört: Flashbacks, Albträume, gesteigerte Ängstlichkeit und Gereiztheit. Dazu immer wieder depressive Phasen mit sehr wenig Antrieb. Meine chronische Müdigkeit macht mich fertig.

In der Woche bekomme ich 13 Therapieeinheiten – von Physio- über Ergo- und Psychotherapie bis hin zu Narbenmassage. Und mir stehen noch etwa zehn bis 15 Operationen bevor. Das alles versuche ich zeitlich mit dem Psychologiestudium zu vereinbaren, das ich vor einem halben Jahr begonnen habe, und mit meinem politischen Aktivismus. Ich kämpfe für Inklusion, gegen Diskriminierung und die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen. Als Inkluencerin berichte ich in den sozialen Medien auch über meine Rehas, Krankenhausaufenthalte und meinen Alltag. Ich habe außerdem einen Podcast: „Gezeichnet fürs Leben“, für den ich mit anderen Betroffenen über ihre Behinderung, psychische Erkrankungen oder Brandverletzungen spreche. Und ich engagiere mich in verschiedenen Gremien der Grünen, bin Sprecherin der Jungen Grünen in Bonn und habe im vergangenen Jahr bei den Kommunalwahlen für die Grünen kandidiert. Den Einzug in den Stadtrat habe ich nur knapp verpasst. Das war ein großer Erfolg in meinem Wahlkreis.

Dass ich einen Unfall hatte, ist dabei für alle sichtbar. Ich habe Narben im Gesicht, an Hals, Kopf, Rücken, Schultern, Fingern und an nicht-sichtbaren Stellen. Aber das war für mich von Anfang an kein Problem. Mein Äußeres war mir nie wirklich wichtig, wobei ich sagen würde, dass ich vor dem Unfall recht hübsch war. Was mich allerdings durchaus belastet, sind die Reaktionen von anderen Menschen. Nicht, dass ich angeguckt werde. Ich trage fast durchgängig eine Kompressionsmaske aus Silikon und sehe einfach anders aus als die meisten Menschen. Das ist schon okay. Aber es nervt, wenn die Leute mich anstarren, die Straßenseite wechseln, mich offensichtlich ignorieren oder tuscheln: Die sieht aber gruselig aus. Wenn es mir mal sowieso nicht gut geht, überlege ich mir zweimal, ob ich vor die Tür gehen soll.

Bei Kindern habe ich mehr Verständnis für die Reaktionen. Aber ich darf auch sehr positive Erfahrungen machen: Im Wahlkampf habe ich mit den Kindern in meinem Ortsteil Müll gesammelt. Es war total schön zu sehen, wie schnell sie die Scheu vor mir verloren und Vertrauen gefasst haben. Sie stellten mir viele Fragen zu meinem Aussehen – ohne Wertung. Wenn ich heute am Kindergarten vorbeigehe, winken mir immer viele Kinder zu. Doch manche Eltern wollen ihre Kleinen scheinbar vor mir beschützen, ziehen oder drehen sie von mir weg. Vielleicht denken sie, sie muten ihnen zu viel zu, wenn sie mit mir konfrontiert würden. Das macht mich unfassbar traurig, weil ich mir denken kann, wie diese Kinder als Erwachsene reagieren werden, wenn Menschen anders aussehen.

Ich habe viel mit Menschen gesprochen, die ihre Behinderung nicht seit der Geburt haben. Sie anzunehmen fällt uns nicht immer leicht – und das oft weniger wegen der Diagnose und der körperlichen Schäden als vielmehr wegen der gesellschaftlichen Vorurteile und Stigmata. Eine Behinderung wird zum Beispiel von vielen mit verminderter Leistungsfähigkeit gleichgesetzt – was nicht immer zutrifft.

Da ich meine Situation sowieso nicht ändern kann, frage ich mich: Was ist so schlimm daran? Ja, mich nerven die Schmerzen, die Einschränkungen und die Barrieren in der Gesellschaft. Dass ich am Rollator laufe, ein Hörgerät trage und anders aussehe, ist für mich in Ordnung. Kein Grund zu sagen: Die Zukunft sieht katastrophal aus.

In meinem Aktivismus habe ich etwas gefunden, das dem ganzen Leiden einen gewissen Sinn gibt und mir bei der Verarbeitung hilft. Ich habe meine Herzensthemen und kann aufgrund und nicht trotz meiner Erfahrungen etwas für andere tun. Mein Ziel ist, dass wir Menschen gar nicht in „normal“ und „anders“ einordnen. Wir sollten zumindest nicht mehr werten.

In einer Reha unterhielt ich mich mit einer Freundin darüber, ob wir einen Reset-Knopf drücken würden. Wir waren beide überrascht, dass wir total froh darüber sind, dass es diesen Knopf nicht gibt – und wir die Entscheidung nicht treffen müssen. Denn ich würde schon sagen, dass ich mich seit dem Unfall persönlich zum Positiven verändert habe. Ich bin ruhiger und ein bisschen selbstbewusster geworden. Ich finde allerdings nicht, dass der Unfall das mit mir gemacht hat, sondern dass ich das aus dem Unfall gemacht habe.