REISEN/Welt am Sonntag

Datum: 1. November 2015
Fotos: Sandra Winkler

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Entdeckergeist

Es gibt sie, diese eine Reise, an die man sich immer erinnern wird. Diesmal sucht Sandra Winkler ein großes Abenteuer in Osttimor – und findet es dann doch ganz woanders

Mal ein Abenteuer erleben. Ein Vorreiter, ein Entdecker sein. Und auf die Frage: „Wo fahrt ihr hin?“ etwas wirklich Originelles antworten können. Nämlich: Osttimor. Dort sollte es Strände wie auf Bali geben – nur ganz ohne Touristen, das hatte man uns auf der Internationalen Tourismusbörse in Berlin an dem kleinen Stand des Messe-Neuzugangs (Slogan: „The World’s Youngest Nation“), ausdrücklich versprochen.

Wir waren angefixt, so richtig. Denn damals, 2006, waren die UN-Soldaten noch nicht lange aus Osttimor abgezogen, das Land also noch ein weißer Fleck auf der Reiseveranstalterkarte: Ein Staat, nicht größer als Schleswig-Holstein, gelegen auf dem allerletzten Zipfel der indonesischen Inselkette, mit holprigen Straßen, unberührten Tauchriffen und dichten Regenwäldern.

Wir fanden ein Hotel in der Hauptstadt Dili, das im Internet einen gewissen Charme vermitteln konnte, und einen Mann namens Eduardo, der unser Tourguide sein wollte. Dann ging es zum Arzt. Der packte uns erst mal ein Überlebensköfferchen. Darin fanden sich Malaria-Tabletten, etwas gegen Durchfall und Dehydrierung, Verbandszeug – und ein starkes Schmerzmittel: Paracetamol 800. Das sei hilfreich, falls wir einen Autounfall hätten, so der Arzt, und dabei vielleicht ein Arm abgetrennt würde, die Rettung aber erst nach Stunden zu uns fände. „Sie müssen dann versuchen, nicht vor Schmerzen in Ohnmacht zu fallen“, riet er. Wir versprachen unser Bestes zu geben, verließen mit Rezepten im Wert von gut 500 Euro die Praxis und sahen uns schon als Herr und Frau von Humboldt die Wildnis erforschen.

Der Flug nach Dili führte über Bali, das auch damals schon so abenteuerlich war wie Disneyland. Also ging es gleich weiter nach Java. Wir buchten ein paar Nächte in einem Luxusresort, einer ehemaligen Kaffeeplantage, wo wir es uns vor der großen Reise ins Ungewisse noch einmal bei Gin Tonic und Clubsandwich gut gehen lassen wollten.

Womit wir nicht gerechnet hatten: Das Abenteuer ging hier schon los. Die Anlage war noch einsamer als erwartet. Uns umgaben Dschungel und Vulkane im Nebel, so wie man es auf dem Foto sieht. Andere Gäste begegneten uns kaum.

Wir lagen viel in unserer javanischen Hütte auf dem Himmelbett herum, bis wir etwas knirschen hörten. Es kam aus dem Dachgiebel. Mit der Taschenlampe leuchteten wir hinein und blendeten einen Gecko, der gerade eine Kakerlake zermalmte. Hm, Kakerlaken. In Asien ja nichts Ungewöhnliches. Doch dann fing das bunte Muster auf unserem Kachelboden an sich zu bewegen. Noch mehr Schaben. Wo kamen die nur her? Wir fanden ein Nest hinter der Couch und sendeten einen Notruf an die Rezeption.

Zwei Männer schlurften heran, bewaffnet mit einem Besen. Sie fegten hinter der Couch herum, nickten und ließen uns dann mit einer Flasche Insektenspray zurück. Mit der besprühte mein Freund später minutenlang eine Kakerlake, die vom Türrahmen auf seinen Arm gefallen war.

Das war uns eigentlich schon zu viel Abenteuer. Und dann bebte auch noch Javas Erde – was wir nicht mitbekamen, weil wir gerade für einen Sonnenaufgang auf einen Hügel gestiegen waren. Doch unser Flughafen hatte Risse in der Startbahn. Wir konnten nicht abfliegen. Und dann schleuderte auch noch ein Vulkan Asche und verqualmte den Flugraum. Dieses Java hat es wirklich in sich!

Wir saßen also noch ein paar Tage in den Rattenstühlen der Plantage und träumten von den großen Osttimor-Abenteuern, die wir nun nicht mehr erleben würden. Hinter uns im Clubhaus lief BBC im Fernsehen. Zu sehen waren Menschen, die mit Gewehren und Macheten bewaffnet über den Boden robbten. „Wo das wohl ist?“, fragte ich meinen Freund. „Osttimor“, las er vom Bildschirm vor. Dort waren Unruhen ausgebrochen. Eine Mail von Eduardo folgte: „It is NOT safe to travel to Dili, there is NO security so far. Please DON’T come“, schrieb er.

Osttimor haben wir bis heute nicht gesehen. Und werden es wohl auch nicht mehr. Nicht nur die Medikamente in unserm Überlebenskoffer sind inzwischen abgelaufen, sondern auch die Zeit, in der wir uns noch bedingungslos in Abenteuer gestürzt haben.