GEO Saison

Datum: April 2006

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Aussicht auf Action

Canyoning statt Spazierengehen, Tauchen statt Tea Time, Nachteulen statt Wandervögel: Die Atlantikinsel sieht längst nicht mehr alt aus

Unser Aufzug liegt voll im Trend. Wanderstiefel – gut, die trägt man auf Madeira seit eh und je. In Kombination mit einem Neoprenanzug hingegen sind sie relativ neumodisch. Obendrein haben wir Klettergurte um die Hüften gelegt und Schutzhelme auf den Kopf gesetzt. Wir sind ein halbes Dutzend Frühaufsteher, die sich ahnungslos ins Abenteuer stürzen.

Canyoning heißt der Spaß, der uns heute bevorsteht – eine Tagestour durch eine wasserführende Schlucht in den Bergen, von oben nach unten. Alle paar Meter entscheidet sich neu, ob wir das nächste Stück im steinigen Flussbett des „Ribeiro Frio“ laufen, schwimmen oder kraxeln. Spazierengehen oder Bootfahren kann man auf dieser Route nicht. Dafür kommen wir der Natur auf rutschfesten Sohlen so nahe wie möglich. Über uns rauscht Madeiras uralter Lorbeerwald, um uns herum fl utet eisiges, kristallklares Wasser.

Mit höchstens vier bis fünf Grad macht der „kalte Fluss“ seinem Namen alle Ehre. Während wir uns vorsichtig mit dem Po über glitschige Steine schieben, frage ich mich, ob ich eigentlich meinen Auslandskrankenschein eingepackt habe. Dabei steht uns die wahre Herausforderung erst noch bevor: Achtzehn Meter hoch ist der Wasserfall, an dem wir uns gegen Ende der Tour abseilen. Den Körper schön weit zurücklehnen, die Füße zum Abstützen breitbeinig auseinander setzen, um nicht gegen den nassen Fels zu klatschen, gefühlvoll das Seil nachlassen, gut festhalten, einen Schwall Wasser im Gesicht ignorieren. Die letzten zwei Meter klinken wir uns aus und springen beherzt in die Kuhle, die der Fluss gebildet hat.

Solche extremen Unternehmungen sind neu auf Madeira. Die portugiesische Vulkaninsel im Atlantik galt bislang vor allem als Paradies für grauhaarige Wandervögel. Typisch Madeira ist das weit verzweigte Netz von Bewässerungskanälen, den Levadas, welche die ganze Insel überziehen. Auf den Fußpfaden, die zu ihrer Instandhaltung dienen, lässt es sich bequem in entlegene Gebiete spazieren oder wandern. Auch das Wetter bringt niemanden ins Schwitzen. Im Sommer steigt das Thermometer selten über 25, im Winter fällt es fast nie unter 15 Grad. Liebhaber schätzen Madeira als „Insel im ewigen Frühling“ oder „schwimmenden Blumentopf“. Die Touristen bringen es auf ein Durchschnittsalter von 45 Jahren.

Und jetzt das: Canyoning, Downhill Mountainbiking, Parasailing, Jet-Skiing, Kajakfahren, Jeepsafari. Action- und Extremsportarten mischen das bewährte Urlaubsprogramm auf. Das beschauliche Madeira will sich als Spielwiese für Adrenalin-Junkies profilieren.

Wohl dem, der nach einer Canyoning-Tour mit blauen Lippen und zitternden Knien ins „Choupana Hills“ zurückkehren kann. Raus aus dem Bademantel, rein in die Sauna. Anschließend Massage von der Stirn bis zum kleinen Zeh, mit einem nach Orangenblüten duftenden Öl. Da wird einem schnell wieder warm. Zumal das Personal es versteht, Gäste in jeder Hinsicht zu verwöhnen: Ist der Degenfisch mit Wasabikruste recht so? Darf ich Ihnen noch einen Madeira als Digestif empfehlen? Sollen wir die Klimaanlage etwas niedriger stellen?

Die ockergelben und dunkelroten Bungalows des Fünf-Sterne-Resorts wurden vor vier Jahren in die Berge oberhalb von Funchal gebaut. Auf der Terrasse des „Choupana Hills“ muss man sich nicht einmal aus dem Liegestuhl erheben, um die Luxusliner zu beobachten, die in den Hafen von Funchal ein- und auslaufen.

Ihr neues Tempo verdankt die Insel nicht zuletzt EU-Fördergeldern, Schnellstraßen und Tunnels wurden gebaut. Brauchte man früher mit dem Wagen vom Flughafen im Südosten über hügelige Schotterpisten nach Porto Moniz im Nordwesten vier Stunden, so schafft man es inzwischen in knapp sechzig Minuten.

Investiert wurde auch in einen Sandstrand. Weil die Insel von felsig-rauer Steilküste umsäumt ist und in den winzigen Buchten meist kratzige Kiesel die Badefreude trüben, wurde im südwestlichen Calheta ein Stück Strand aufgeschüttet, groß wie ein Fußballfeld. Den Wüstensand importierte man aus Marokko. Vor allem Familien und Paare genießen unter blauen Sonnenschirmen die künstlichen Lagune. Sanft fällt der Strand zum Meer hin ab, und hinter den beiden Molen ist von den atlantischen Strömungen nichts zu spüren. Gleich nebenan empfängt ein gepflegter Yachthafen Segler aus aller Welt. Vier neue Marinas sind in den vergangenen drei Jahren auf der Insel entstanden, eine weitere ist geplant.

Sogar das legendäre „Reid’s Palace“ verjüngt sich zusehends. Im ältesten Traditionshotel der Insel, wo schon Winston Churchill seinen Five o’Clock Tea serviert bekam, wurde Kinderbetreuung eingeführt und der Dresscode gelockert: Nun genügen Anzug und Krawatte zum Dinner statt Smoking . Rezeption, Swimmingpools und ein Großteil der Zimmer präsentieren sich frisch renoviert, diesen Sommer soll auch das neue, separate Spa fertig sein.

Heute ruft der Zeitgeist überall auf der Welt nach Ayurveda und Shiatsu. Diesen Trend hat Roland Bachmeier bereits Ende der 1990er Jahre erspürt. Als einer der ersten Hoteliers auf Madeira legte der deutschstämmige Besitzer des „Ondamar“ für seine Gäste Bademäntel zurecht, baute einen riesigen Fitnessbereich an und annoncierte sein Haus an der Küste von Caniço de Baixo als „Sporthotel“.

Nicht nur deshalb treffen sich im „Ondamar“ jüngere Besucher. Einen Katzensprung vom Hotel entfernt liegt das „Manta Diving Center“, die einzige Tauchbasis mit eigenem Hausriff im Unterwasser-Naturschutzgebiet von Madeira. Per Fahrstuhl geht es dreißig Meter die Steilwand hinab zu einer Felsenterrasse mit Salzwasserpool. Ohne lange Bootstour kann man dort direkt mit Maske, Schnorchel und Pressluftflasche ins Wasser springen. Der Golfstrom hält es das ganze Jahr über schön warm. Entlang der dunklen Lava-Formationen, in den Tunneln und Höhlen treffen Taucher auf Exoten wie Röhrenaale, Papagei- und Kugelfi sche oder sogar Mantarochen. Madeiras phantastische Unterwasserwelt ist noch ein Geheimtipp.

Den Tauchgang ins Nachtleben beginnen Madeirenser und gut informierte Inselgäste im Fischerdörfchen Câmara de Lobos, zehn Autominuten westlich der Hauptstadt Funchal. Auf dem Kopfsteinpflaster vor dem „Nº 2“ sammelt sich am Abend eine Menschentraube. Es heißt, in dem rustikalen Barschlauch gäbe es den besten Poncha der Insel. Das gleiche behauptet auch die „Bar do Mar“ gegenüber. Nach einer Kostprobe möchte man beiden Recht geben.

Poncha ist das Nationalgetränk auf Madeira. Er besteht aus je einem Drittel Zuckerrohrschnaps, Zitronensaft und Honig, der die starke Mischung sanft den Rachen hinunterrinnen lässt. „Wir trinken Poncha bei Kopfweh, Halsschmerzen oder Kniebeschwerden“, sagt der junge Mann, der am Tresen des „Nº 2“ Zitronen auspresst. Er ist der Enkel des Besitzers. Großvater, Schwiegersohn und zwei Enkel mixen hier die Drinks. Auch vor der Bar sind alle Altersklassen willkommen.

Nach den ersten Ponchas zieht das Partyvolk weiter nach Funchal, zum Beispiel ins schicke „Café do Teatro“ in der Altstadt oder zu Livemusik in den Club „Glória Latina“. Wer dann noch nicht genug hat, der tanzt ab Mitternacht in der Diskothek „Vespas“.

Sonntag, drei Uhr morgens. Wer hätte gedacht, dass zu dieser Zeit auf Madeira überhaupt noch jemand wach ist. Auf der düsteren Hafenmole von Funchal fällt grelles Licht aus einem Fahrstuhl, der zur „Look Lounge“ fährt. Der Club ist eine Art Feier-Festung auf dem Dach des alten Forts. Auf der Terrasse übertönen Bässe vom DJ-Pult das Rauschen der Atlantikwellen. Die Damen tragen Glitzertops und Netzstrümpfe, schlürfen Cocltails auf halbkugelförmigen Stühlen. Der Blick auf das nächtliche Funchal ist phänomenal.

Partystimmung gehört ebenfalls zum Verjüngungskonzept Madeiras: Aus dem Hafen von Funchal soll ein Ausgehviertel werden, mit Bars, Restaurants, Shops und Clubs. Bis auf zwei Container ist das Gelände immerhin schon leer geräumt. Noch gehen die meisten Touristen zu Bett, wenn die Einheimischen loslegen, aber manch einer träumt bereits von einem zweiten Ibiza. Mit ihrem „Fuck Rock“-Shirt sieht zumindest die Barfrau der „Look Lounge“ tatsächlich so aus, als hätte man sie von der partyverrückten Mittelmeerinsel importiert.

Höchst traditionell: Wandern kommt auf Madeira nie aus der Mode. Der Pico do Arieiro, 1818 Meter hoch, lädt dazu ein Wer nach einer Tour durch die Nacht am nächsten Tag nicht mehr in der Lage sein sollte, sich tollkühn von Wasserfällen abzuseilen oder mit dem Mountainbike steile Pfade zu bewältigen, der sollte sich zu einem Spaziergang an den guten alten Levadas aufraffen. Eine moderne Variante veranstaltet das „Choupana Hills“: Einmal in der Woche schickt das Hotel einen Yogameister mit seinen Gästen auf Wanderschaft. Da sage noch jemand, Madeira gehe nicht mit der Zeit.