www.sandrawinkler.de / Runter kommen sie alle / 2024-03-29 06:52:41
Schlittenfahren ist kein Kinderspiel. Das meinen offensichtlich auch die beiden breitschultrigen Männer in Motorradjacken, die im Berliner Mauerpark ihre Holzschlitten den weißen Hang hinaufziehen. Ein Trio, alle haben die 30 mit Sicherheit überschritten, schlingern ab- wechselnd die schneebedeckte Erhebung auf einem Klappschlitten hinab, der so antik aussieht, als könne er nicht mal mehr sein eigenes Gewicht tragen. Und eine Frau mit Hochsteckfrisur prüft ihren feinen Wollmantel auf Schneetauglichkeit, indem sie auf einer großen Mülltüte die Piste hinabschlittert. Ihre hochhackigen Stiefeletten funktionieren als Bremse gar nicht schlecht.
Das Rodelpublikum hat sich verändert. Auch Erwachsene ohne Alibinachwuchs brettern neuerdings vor Freude schreiend über Schneehügel und lassen sich vom eisigen Wind die Nase anfrieren. Und genau wie die Fahrer sind auch ihre rutschenden Untersätze vielfältiger geworden – von den Holzschlitten, die man meist noch aus Kindertagen im Keller stehen hat, über Plastikschnäbel und Sitze mit Zipfeln, die Trendsportgeräte sein wollen, bis hin zu Designerstücken aus Stahlrohr. Aber für wen ist was das Richtige? Um das herauszufinden, haben wir sieben verschiedene Modelle in den Mauerpark gezogen.
Als Erstes teste ich meinen alten Davoser, den Klassiker unter den Holzschlitten. Benannt wurde er nach dem Ort, an dem das erste offizielle „Wettschlitteln“ vor 127 Jahren stattfand. Immerhin fast 30 Jahre ist es her, dass ich die unbequemen Holzlatten eines Davosers unter meinem Hintern gespürt habe. Erinnerungen kommen hoch. Leider zuerst eine schlechte. Nämlich die, als mein Nachbar bäuchlings auf seinem Schlitten den Cuxhavener Deich hinab und dann mit dem Gesicht voran in einen Zaun fuhr. Das Resultat: viel Geschrei und eine gebrochene Nase.
Diesen Gedanken im Kopf, setze ich mich anständig auf den Schlitten und bin froh, dass ich mich vor dieser Rodelpartie im Internet noch mal über die richtige Technik schlau gemacht habe: „Zum Lenken wird für eine Linkskurve der linke Fuß schnell von den Kufen auf den Boden gesetzt und mit dem Halte- strick in dieselbe Richtung gezogen. Rechts läuft es umgekehrt.“ Zum Bremsen soll man beide Füße in den Schnee stellen. Klingt doch ganz einfach.
Los geht’s. Der Schlitten nimmt Fahrt auf, meine Beine lasse ich vorsichtshalber schleifen. Und bin enttäuscht. Irgendwie hatte ich Rodeln rasanter in Erinnerung. Recht gemütlich geht es bergab. Lenken muss ich nicht, bremsen kann der Schlitten von allein. Bei der zweiten Abfahrt kommt mir immerhin ein Spaziergänger in die Quere. Ich stemme das linke Bein in den Schnee, reiße an der Leine. Zunächst passiert nichts. Bis der Davoser plötzlich, fast im 90-Grad-Winkel, um die Ecke biegt und umkippt. Störrischer Esel! „Lenken ist bei starren Holzkonstruktionen mit parallel laufenden Kufen kaum möglich“, hatte mir ein Berliner Händler am Telefon erklärt. Sportliche Rodel haben schräg gestellte Kufen, die am vorderen Ende beweglich sind.
Der Davoser ist nicht für Höchstleistungen, sondern als Familienkutsche gedacht, um damit Kinder durch den Schnee zu ziehen oder gemeinsam mit ihnen den Berg zu bezwingen. Nach der dritten Abfahrt wird mir langweilig.
Der nächste Testkandidat ist dem Davoser ähnlich. Doch der Hörnerschlitten bietet seinem Fahrer statt eines harten Lattenrosts eine weiche Matte zum Sitzen, und das Ende seiner Kufen steht nicht einfach senkrecht in die Luft, sondern formt zwei schöne runde Loopings – die Hörner. Auf dem Weg zum Berg kann man den Schlitten damit hervorragend schultern, auf dem Weg runter vom Berg sich daran fest- halten. Das sind ohne Frage Vorteile. Dafür gibt es aber Abzüge in der B-Note: Bei Kindern mag es herzig aussehen, wenn sie sich bei der Abfahrt nach vorn gebeugt in das gebogene Holz krallen. Ich komme mir vor wie Gollum, der auf der Suche nach seinem „Schaaatz“ den Hang hinabrutscht.
Viel bessere Haltungsnoten bekommt da der Sportrodel „Abyss R13“. Wer dessen Zugseil in die Hände nimmt und die Füße vorn auf die lang gezogenen Kufen setzt, muss sich zwangsweise nach hinten lehnen – und macht so automatisch eine sportliche Figur. Und nicht nur der Fahrer, auch der Schlitten selbst macht etwas her. Gefertigt vom Allgäuer Traditionsunternehmen Sirch besteht er aus Eschenholz, welches widerstandsfähiger ist als die meistens verwendete Buche, und seine Kufen werden noch mit Dampf in Schwung gebracht. Da konnte selbst der Hüter der guten alten Dinge, die kulturkritische Kaufhauskette Manufactum, nicht anders, als den „Abyss“ in sein Programm aufzunehmen.
Sein Furcht einflößender Name „Abgrund“ passt zum Glück so gut zum Fahrgefühl wie ein Spoiler zum Rolls Royce. Der mit sechseinhalb Kilo eher schwere Schlitten (zum Vergleich: Ein Davoser wiegt etwa fünf Kilo) pflügt kurssicher durch den Schnee. Zum Lenken reichen ein kräftiger Zug am Seil und das Verlagern des Körpergewichts. Bei allem Lob müssen Stadtmenschen allerdings bedenken: Nicht nur optisch passt der „Abyss“ am besten vor eine eingeschneite Berghütte. Bei der kurzen Strecke im städtischen Park fehlt dem Sportrodel aus Bayern der Auslauf, um richtig in Fahrt zu kommen. Beginnt man zu lenken, ist man schon unten.
Urbaner ist da der S 333. Auch wenn sein Anblick einem zunächst nicht das Herz erwärmt – das kalte Stahlrohr-Skelett, der für einen durchschnittlich breiten Frauenpo recht schmale Sitz aus Nylon –, schon in der Straßenbahn beweist er Großstadttauglichkeit. Auf dem Rücken getragen sieht er aus wie ein schicker Rucksack – oder eine futuristische Wirbelsäulenprothese.
Im Schnee geht der Schlitten aus Stahl ab wie ein Silberpfeil. Und die Aufmerksamkeit der Mitrodler ist einem sicher. „Der ist aber schön! So minimalistisch“, lobt eine Frau, die ihren Husky am Hang des Hügels spazieren führt. Ein junger Mann fragt interessiert nach dem Hersteller. Entworfen wurde der Designerrodel für den Möbelhersteller Thonet. Inspiration für die Form waren dessen Freischwinger. Die wippende Konstruktion reagiert auf Bodenwellen im Schnee wie ein Stoßdämpfer. Der Hintern federt elegant auf und ab. Ein hervorragender Schlitten für Ästheten und vermutlich auch für Rückengeschädigte.
Weniger um Eleganz oder etwa Tradition geht es den Herstellern von Plastikrodeln. Schnell sollen sie sein, die knallbunten Kunststoffflitzer. „Am besten wischen sie ihn vor der ersten Benutzung einmal mit Pril ab. Bei der Herstellung bildet sich eine Schicht auf dem Bob, die ein wenig bremst“, sagt Armin Breitenbach, der den Zibob vertreibt.
Der Zibob ist ein Zipflbob. Diese Rodelgattung wurde vor 40 Jahren von einem Österreicher erfunden und wird inzwischen von verschiedenen Herstellern fabriziert. Als Grundlage für seine Form diente eine Kohleschaufel. Aus dem Sitz ragt eine Art Stiel als Steuerhebel hervor – der Zipfel. An ihm kann man den nur etwa eineinhalb Kilo schweren Bob angenehm leicht den Hang hinauftragen. Außerdem ist der Griff abschraubbar und die beiden Einzelteile lassen sich platzsparend verstauen.
Da mein Hausberg aus Kindertagen ein Deich war, bin ich für rasante Schussfahrten nicht unbedingt ausgebildet. Ich laufe also erst einmal ein Stück den Hang hinab, dort, wo es etwas flacher ist, nehme ich auf meinem Bob Platz – und fühle mich erst einmal sehr alt. Es dauert einen Moment, bis ich mich in meinem dicken Daunenmantel runter auf den kleinen Zibob gequält habe. Ich hocke ein paar Zentimeter über dem Boden auf einem Stück Plastik in Neongrün (das meistverkaufte Modell, sagt Breitenbach) – und ich bin mir ziemlich sicher, dass ein paar grinsende Kinder mit dem Finger auf mich zeigen.
Dann ist mir alles egal. Denn der Zibob nimmt sofort eine beachtliche und beängstigende Fahrtgeschwindigkeit auf. Doch im Gegensatz zu meinem Davoser lässt sich der Kunststoffrodel hervorragend steuern – oder fachmännisch gesagt: carven. Lehne ich mich leicht nach links oder rechts, fährt er tatsächlich sofort in diese Richtung. Zum Bremsen stelle ich wie immer beide Füßen in den Schnee, zum plötzlichen Bremsen ziehe ich zusätzlich am Zipfel und lehne mich nach hinten. Es funktioniert. Zum Glück ist der Schnee frisch und fluffig. Auf vereister Piste möchte ich das Plastikgeschoss nicht Probe fahren.
Stolz blicke ich zurück auf eine ordentliche gezogene Spur am Hang. Und schon nach ein paar Abfahrten will ich an einem dieser internationalen Zipflbob-Rennen teilnehmen, von dem mir Breitenbach erzählt hat. Doch ich verwerfe den Gedanken abrupt in dem Moment, als bei einer meiner Rutschpartien ein Kantstein, der aus dem Schnee lugt, meine Fahrt bremst. Der Knauf versetzt meinem Oberschenkel einen schmerzhaften Schlag, dann reißt er aus der Halterung. Eine längere Schraube im Griff müsste das Problem beheben können. Aber für heute hat der Zipflbob seinen Zipfel verloren – und ausgedient.
Noch schneller als die rasende Kohleschaufel soll der Duckduck sein. Sein Vertriebsmann behauptet sogar, er sei der schnellste Schlitten auf dem Markt. Definitiv ist er nicht der schönste. Er ist gelb und erinnert an einen Entenschnabel, was den Namen Duckduck erklärt. Der Schnabel ist hohl. Im Sommer soll er als Boogieboard im Wasser funktionieren. Und auch im Schnee hat man mit der luftigen Konstruktion das Gefühl, obenauf zu schwimmen. Verlagert man leicht das Gewicht, schlängelt sich das Brett auf seinen Gleitkanten den Hang hinab. Ein großer, Furcht einflößender Spaß.
Im Internet habe ich gelesen, dass seine Fans den Duckduck begeistert in allen möglichen Lagen, im Sitzen, stehend, auf den Knien und auf dem Bauch liegend, fahren. Mein Mut reicht nur für die sitzende Position. Ich drücke den Schnabelschlitten dem neunjährigen Sohn eines Bekannten in die Hand. Mal sehen, was er sich traut. Bereits nach ein paar Metern abwärts – im Sitzen wohlgemerkt – gibt er ihn mir zurück: „Der ist zu schnell.“
Bleibt noch die Mülltüte, die ich aus meiner Jackentasche ziehe. Der Transport war schon mal einfach. Bei der Abfahrt offenbaren sich die Schwächen des blauen Sacks. Damit er vorankommt, muss ich mich wie ein Käfer auf den Rücken legen und spüre jeden Huckel unter mir. Mein Untersatz ist völlig unkontrollierbar. Schon nach wenigen Metern sehe ich aus wie ein gepuderzuckerter Pfannkuchen und gebe auf. Mein neunjähriger Mittester will die Tüte auch mal ausprobieren. Auf dem Weg nach unten wedelt er mit den Armen, strampelt mit den Beinen. Es hilft alles nichts. Er dreht sich, rutscht ein Stück, bleibt liegen. Lacht sich schlapp. Nach der zügellosen Fahrt kommt er völlig außer Atem zurück und fragt: „Darf ich die behalten?“ Bedenkt man das Preis-Leistungs-Verhältnis, so gibt es bei dieser Rodel-Variante auf jeden Fall jede Menge Spaß für wenig Geld.
© Sandra Winkler
Welt am Sonntag 9. Januar 2011