www.sandrawinkler.de / McGyver für alle / 2024-04-25 13:36:05
Es gibt Momente, in denen man sich zu helfen wissen muss. Zum Beispiel, wenn man am Strand sitzt, die Flasche Wein aus der Kühltasche nimmt – und dann merkt, dass niemand an den Korkenzieher gedacht hat. Ein Trick, den wahrscheinlich fast jeder schon einmal angewendet hat: Korken mit einem Schlüssel oder Feuerzeug in die Flasche drücken. Das klappt mal mehr, mal weniger gut – und manchmal kommt der Wein danach nur tröpfchenweise aus der Flasche.
Heute kann man in solch einem Fall „Flasche ohne Korkenzieher öffnen“ mit dem Smartphone googeln und bekommt Videos mit mannigfaltigen Ideen, wie man auch anders an seinen Wein kommt. Vieles ist Quatsch – denn wer bitte hat zwar keinen Korkenzieher, aber eine Bohrmaschine oder Schrauben und Schraubenzieher zur Hand oder will warten, bis der Wein nach dem Herauskochen des Korkens abgekühlt ist? Über den Qualitätsverlust wollen wir gar nicht erst reden.
Aber ein Tipp ist einfach genial: Man steckt die Flasche in einen Halbschuh und schlägt mit der Sohle so lange gegen eine feste Fläche – eine Wand oder einen Strandkorb zum Beispiel – bis der Korken vorne herauskommt. Funktioniert tatsächlich. Muss man sich merken, denkt man. Und ist schon voll im Lifehacking-Fieber. So wie viele andere Menschen auch.
Seit ein paar Jahren werden Internetvideos, die uns das alltägliche Leben leichter machen sollen, wie verrückt geklickt – und gelikt. Lifehacks nennt man die dort gezeigten Tipps und Tricks. Und ein wirklich guter Lifehack ist wie ein Aha-Erlebnis, weil er ein scheinbar unüberwindbares Problem, mit dem man sich schon immer herumgeschlagen hat, clever und überraschend einfach löst. Warum zum Beispiel hat man all die Jahre beim Bohren jemanden gebraucht, der den Staubsauger hält, um den Staub aufzufangen, der aus der Wand rieselt? Viel praktischer ist doch ein nach oben gefaltetes Post-it, das direkt unter dem Loch klebt.
Häufig werden bei Lifehacks Gegenstände kreativ und ganz anders verwendet als ursprünglich vorgesehen. Wer plötzlich mithilfe einer Sicherheitsnadel den Verschluss eines Armbands am eigenen Handgelenk ganz locker schließen kann oder mit einer Flasche und Ess-Stäbchen blitzschnell Kirschen entkernt, fühlt sich smart und patent – aber auch ein bisschen wie ein Nerd.
Das ist, wenn man weiß, wo die Lifehacks ursprünglich herkommen, auch kein Wunder. Der Begriff Lifehack stammt aus der amerikanischen Computerszene. Der Technologie-Journalist Danny O’Brien brachte die beiden Worte Life und Hack 2004 zum ersten Mal nach seiner Präsentation „Technische Geheimnisse überproduktiver Alpha Geeks“ auf einer Technologie-Konferenz in Kalifornien zusammen. In seinem Vortrag ging es um die kleinen Tricks und Abkürzungen von Programmier-Experten, mit denen sie die immer größer werdenden Mengen an Daten bewältigten. Inzwischen existieren nicht nur Lifehacks für die Computer- und Arbeitswelt: Es gibt Travelhacks, Foodhacks, Parenthacks, Partyhacks und so weiter.
Diese Lebenskniffe bedienen eben unseren Optimierungsdrang. Für jedes Problem wollen wir heute am besten sofort eine Lösung finden. Läuft es schlecht im Job, holen wir uns einen Coach. Haben wir Hunger und keine Lust zu kochen, rufen wir einen Lieferservice. Funktioniert die Beziehung nicht, gehen wir zum Paartherapeuten. Wer dick und unfit ist, nimmt sich einen Personal Trainer. Für alles haben wir unseren Dienstleister. Und einen Lifehack, der uns weiterbringt.
Zum anderen sind Lifehacks nicht nur effektiv, sondern im besten Falle auch noch effizient. Sie sparen uns – in einer schnelllebigen Zeit – wertvolle Minuten: So faltet man T-Shirts in drei Sekunden. So kühlt man ein Bier in zwei Minuten auf Trinktemperatur. So saugt man mit einer Plastikflasche blitzschnell ein Eigelb aus einem Eiweiß.
Früher hat man sich vielleicht noch von seinen Eltern oder sogar Großeltern Tipps für den Haushalt, die Küche oder das Leben im Allgemeinen geben lassen. Es gab Hauswirtschaftsschulen und zur Hochzeit einen Ratgeber für die gute Ehefrau. Heute holen wir uns unsere Lektionen lieber aus dem Internet.
Der Begriff Lifehack und die Filmchen auf YouTube haben ohne Zweifel geholfen, die Lebenskniffe aus der „Frag Mutti“-Ecke herauszuholen und sie unterhaltsam und fast schon cool zu machen. Außerdem passen sie natürlich sehr gut zur aktuellen DIY-Welle. Mit vorgefertigten Bausätzen und Materialien begnügen Lifehacker sich nicht. Man tüftelt und experimentiert, bis das bestmögliche Ergebnis erreicht ist.
Lifehacks machten den grauen Alltag zudem etwas fröhlicher und schöner, meint Kai Du, der gemeinsam mit Benjamin Behnke im Audio-Podcast „Trick 17“ Lebenskniffe auf ihre Alltagstauglichkeit testet. „Außerdem ist die Umsetzung der Lifehacks meistens sehr einfach, kostet wenig oder gar kein Geld und macht Riesenspaß. Allesamt gute Zutaten für einen Hype.“
Wer einen Lifehack erfunden hat, ist meist nur schwer nachzuvollziehen. Nachdem Kai Du und sein Podcast-Kollege sich anfangs mit populären Lifehacks, die im Internet kursierten, befasst hatten, fingen sie an, eigene zu entwickeln. „Wenn man sich eine Weile mit dem Thema beschäftigt, verändert sich das eigene Denken. Auf der einen Seite erkennt man schneller Dinge, die man verbessern und vereinfachen kann. Auf der anderen Seite beginnt man, sämtliche Gegenstände um sich mit ihren Eigenschaften zu sehen.“ Verpackungsmaterial, das man normalerweise wegwirft, aber auch Büro- und Baumaterial entfaltet plötzlich in einem anderen Lebensbereich spannende Möglichkeiten.
Lifehacker, die ihre Tricks auf Youtube präsentieren, haben inzwischen richtige Fangemeinden, vor allem bei Teenagern. So wie Emrah, der vor der Kamera herumzappelt und dabei „9 krasse Zahnpasta-Lifehacks“ präsentiert (für Erwachsene schwer zu ertragen. Aber der Tipp, zerfetzte Zahnbürsten in heißes Wasser zu tauchen, um sie wieder ansehnlich zu machen... Respekt!) Oder der „Crazy Russian Hacker“, dessen starker Akzent und eine deutlich hörbare Begeisterung seine Markenzeichen sind.
Aber auch Erwachsene stehen gut da, wenn sie auf einer Party von cleveren Lifehacks berichten können. Verleihen sie doch einen gewissen MacGyver-Appeal, selbst wenn man sich nicht mit Bösewichten, sondern mit einem schwer zu entkernenden Granatapfel herumschlägt.
Manche Tricks kommen besonders gut bei umweltbewussten Menschen an, weil sie Müll reduzieren. Bevor man etwas Neues kauft, kann man etwas Altes, das man eh wegschmeißen wollte, zweckentfremden: Aus Schraubgläsern werden Lampen, aus in Scheiben geschnittenen Weinkorken Mosaikpinnwände, aus einer leeren Stapelchipsröhre ein Klangverstärker fürs Smartphone.
Besonders multifunktional einsetzbar sind leere Plastikflaschen. Sie funktionieren zum Beispiel als Stiefelspanner oder, über Jungpflanzen gestülpt, als kleine Gewächshäuser. Und füllt man sie mit Leitungswasser, ersetzt den Deckel durch ein Stück Stoff und steckt sie kopfüber in die Erde neben eine Pflanze, werden sie zum Bewässerungssystem. Geld spart das Ganze natürlich auch.
Auch die Buchbranche ist inzwischen auf den Trend aufgesprungen. Wobei man sich fragen muss: Warum sollte man sich ein Buch voller Lifehacks kaufen, die es auch im Internet und dort sogar kostenlos und mit bewertenden Kommentaren gibt? Trotzdem sind von der Reihe „Trick 17“, gestartet mit Podcast-Host Kai Du, bereits acht Bände erschienen. Und im September bringt mamiblock.de „Mom Hacks“ für Mütter auf den Markt, mit „Fingerfarben selbst gemacht“ und Eisschnullern aus Muttermilch.
Wer sich durch die unzähligen Lifehacks im Internet klickt, fragt sich irgendwann: Was kann denn da jetzt noch kommen? Und tatsächlich verschwimmen langsam die Grenzen zwischen Klamauk (wie öffne ich fünf Bierflaschen auf einmal), Tipps, die keiner braucht (wie schneide ich mit Zahnseide Mozzarella besonders akkurat) und DIY-Bastelanleitungen (Backförmchen aus einer Coladose). Auch erste Satire-Videos zum Lebenshilfe-Hype tauchen schon im Netz auf: Sie zeigen zum Beispiel, wie man eine Banane mithilfe eines Messers und eines Löffels ganz leicht öffnen kann.
© Sandra Winkler
Welt am Sonntag 16. Juli 2017
Fotos: Ilka & Franz