www.sandrawinkler.de / Hoppe, Hoppe, Heiter / 2024-12-22 11:25:34
Mein Gott, was sehen wir glücklich aus. Meine Tochter und ich auf einem Feld. Milla hält ihr Pferd an einem Seil, meines steht ganz zwanglos neben mir – und es scheint fast so, als würde es mir gleich einen Kuss auf die Wange geben. Wir lachen. Die Pferde lachen. Ja, selbst die Sonne lacht mit uns, am Himmel spannt sich ein Regenbogen. Diese Zeichnung von Milla habe ich mir in letzter Zeit oft angeschaut. So stellt sich also meine Sechsjährige ihre Sommerferien vor.
Das Problem ist nur: Ich finde Pferde nicht lustig. Ihre massigen Körper, die harten Hufe, der scheele Blick und das gewaltige Gebiss machen mir Angst. Ich denke an den Jungen aus meiner Heimatstadt, dem eine Wange fehlt, angeblich weil er mal ein Pferd auf der Wiese hinter unserer Wohnanlage geärgert hat. Ich sehe Hufe, die nur knapp an meinem Kopf vorbeigetrampelt sind, nachdem ich als Kind auf einem Jahrmarkt vom Pferd gefallen war. Schon früher fand ich meine Klassenkameradinnen, die immer ein bisschen nach Stallmist rochen und „Wendy“ lasen, irgendwie langweilig und gleichgeschaltet. Warum sollte ich also trotzdem auf einen Reiterhof fahren? Vielleicht einfach, um meine Tochter glücklich zu machen.
Im Internet stoße ich auf Muki-Reitkurse, Mutter-Kind-Kurse, und buche eine Woche auf einem Reit- und Ferienhof in Dahrendorf. Der Ort liegt knapp zwei Stunden mit der Bahn von Berlin entfernt, zwischen Altmark und Wendland, hat rund 90 Einwohner und 40 Pferde, von denen 14 Anja Rademacher gehören, der Besitzerin des Reiterhofs. Auf ihrer Website steht, dass sie Diplom-Reitpädagogin ist. Klingt vertrauenerweckend.
Ein paar Wochen später holt uns Anja vom Bahnhof ab und bringt Milla und mich zu ihrem Hof, der recht überschaubar ist: An dem Fachwerkhaus rankt Wein, davor wachsen Hortensien- und Hagebuttenbüsche, daneben der Stall mit einer Koppel und einem Longierzirkel, in dem man die Pferde an einer langen Leine im Kreis laufen lässt. Mit ihren langen grau-braunen Haaren, den dicken Stiefeln und einer kakifarbenen Kappe sieht die 48-jährige Anja so schön verwildert aus wie ihr Obstgarten. Die Sozialpädagogin betreibt den Hof nebenberuflich. Darum sei er nicht mit den riesigen Anlagen zu vergleichen, die es wegen der Nachfrage unzähliger Pferdemädchen anderswo in Deutschland gibt und auf denen ein Dutzend Reitlehrer ein strenges Regiment führen, um die vielen Kinder in den Griff zu bekommen.
Unsere Ferienwohnung teilen wir mit zwei weiteren Muki-Paaren: Oda und ihrer siebenjährigen Tochter Lilli aus der Nähe von Kiel sowie Claudia und ihrer Tochter Odile aus Berlin. Odile erinnert Milla an Tina aus den „Bibi und Tina“-Filmen, und sie flüstert mir aufgeregt zu, dass sie die Zehnjährige „ziemlich cool“ findet. Odile hilft regelmäßig auf einen Kinderbauernhof in Prenzlauer Berg, den Stall auszumisten und die Tiere zu versorgen. Im Gegenzug bekommt sie kostenlosen Reitunterricht. Seit sie sieben ist, fährt ihre Mutter sie außerdem jede Woche ins Umland zum Voltigieren.
Für Lilli soll die Woche in Dahrendorf eine Einstimmung auf Reitstunden zu Hause sein, für die sie bereits angemeldet ist. Als ich sehe, dass Lilli Pferdesocken trägt, frage ich Oda amüsiert, ob das immer so sei. Sie nickt: „Und abends legt sie sich in ihre Pferdebettwäsche unter ihr Pferdeposter und lässt sich ‚Meine schönsten Ponyferien‘ vorlesen.“ Wenn Milla hier nicht ihre Leidenschaft mal so richtig ausleben kann, wo dann?
Wir ziehen uns schnell um, und dann geht es auch schon los zu den Pferden. Drei von ihnen sollen vom Auslauf in den Stall geholt und fürs Reiten fertig gemacht werden. Odile, Lilli und Milla stürmen vorneweg. Ich bleibe lieber auf Distanz und kann gar nicht mit ansehen, wie die Kinder direkt hinter den Pferden rumlaufen. Anja zum Glück auch nicht: „Nähert euch langsam und klopft dabei vorsichtig auf die Hintern.“
Die Pferde Candy, Pauline und Ronny Pony werden im Stall angebunden und gebürstet, dass es staubt. Auch ich gebe mir extra viel Mühe, in der Hoffnung, dass man sich das Vertrauen eines Pferdes erstriegeln kann. Dann kommen die Hufe dran. Und ich finde es erstaunlich, dass ich schon am ersten Tag einen Pferdefuß auf meinen Oberschenkel lege, damit Milla den Huf auskratzen kann.
Die nächste Übung: ein Pferd führen – zu Anjas kleiner Reithalle einmal über die Dorfstraße. Das klingt zum Glück halb so wild. Doch Milla ist enttäuscht: Führen? Am liebsten würde sie gleich im Galopp ins Gelände jagen. So wie Bibi und Tina auf Amadeus und Sabrina. „Ich kenne mich mit Reiten aus“, nörgelt sie. „Ich bin doch schon 1000 Mal geritten.“ Damit meint sie, dass jemand ein Pferd, auf dem sie saß, an einem Seil durch einen Tierpark oder einen Urlaubsort geführt hat. „Solche Tiere sind halb tot“, meint Anja. „Sie laufen ihre gewohnten Wege oder trotten blind dem Vordermann hinterher.“ Ihre Tiere seien ganz fein und sensibel. Sie reagieren auf kleinste Impulse. „Bei unerfahrenen Reitern wanken sie hin und her, weil sie nicht verstehen, was der Mensch auf ihrem Rücken von ihnen will.“ Wir werden uns also vorsichtig herantasten.
Zweimal am Tag steht Reiten auf dem Programm. Morgens für Mütter und Kinder, abends nur für die Kinder. Geritten wird im Westernstil. Das sagt mir nichts, ist aber von Anja schnell erklärt: Im Gegensatz zur klassischen englischen Reitweise leitet man beim Westernreiten nicht durch permanenten Schenkeldruck und mit hoher Muskelspannung das Pferd. Man gibt nur kurze Impulse. Und ein Signal gilt so lange, bis ein neues kommt. Das ist netter fürs Pferd und wohl auch für den Menschen. Der Wahnsinnsmuskelkater, über den erwachsene Reitanfänger klagen, wird mir, wie ich gelesen habe, erspart bleiben.
Ich bekomme Candy zugeteilt. Sie sieht aus wie Pippi Langstrumpfs Kleiner Onkel und ist angeblich Anjas bestes Schulpferd: „Freu dich, die will jedem gefallen und hat einen eingebauten Sofatrab. Genau das Richtige für dich.“ Na, dann kann ja nichts schiefgehen. Ich greife entschlossen das Seil an Candys Halfter, streichle ihr noch einmal über den Hals, dann gehe ich los. Und tatsächlich: Candy kommt mit! Bis wir aus dem Stalltor sind und sie mich plötzlich mit einem Ruck nach unten reißt, um ihr Maul ins Gras zu stecken. Ich zerre am Seil. So etwas wäre mir auf einem Bild von Milla nie passiert. „Du brauchst Autorität! Sende Signale aus!“, fordert Anja. Ja, aber was bitte versteht denn Candy an meinem Gezerre nicht? Da wir eh falsch herum stehen, versuche ich, das störrische Tier in die richtige Richtung zu ziehen – und kassiere den nächsten Rüffel. „Du kannst ein Pferd doch nicht wenden. Du musst es im Kreis führen!“ Und schwupps bin ich Candy los. Anja übernimmt.
Hach, ich möchte schmollen: Was mache ich eigentlich hier? Aber das geht ja nicht vor meiner Tochter. Ich trotte also stumm hinter der Gruppe her bis zur Halle, wo ich Candy zurückbekomme. Denn nun sollen Milla und ich im Team mit ihr arbeiten. Milla sitzt auf dem Pferd, versucht zu lenken, und ich führe. Es läuft nicht gut. „Du drängst sie ab“, „Du gehst zu schnell, Candy hat schon die Ohren angelegt“, hagelt es Kritik. Ich fühle mich wie ein Kind, das ständig auf die Finger kriegt, weil es etwas falsch gemacht hat. Dabei bin ich doch hier die Erwachsene. Zurück zum Hof darf ich Candy trotzdem führen. Dabei trampelt sie mir auch noch auf den Fuß und bleibt dort stehen, um ganz gemütlich ein Büschel Gras zu fressen. „Du stehst auf meinem Fuß!“, raunze ich sie an. Dafür hat Anja kein Verständnis: „Da musst du halt aufpassen!“ Ich bin bedient. Das doofe Vieh soll gucken, wohin es stampft! Vom Pferdeschisser zum Pferdehasser in knapp zwei Stunden.
Zum Glück hebt sich meine Stimmung am Abend wieder. Wir kochen gemeinsam in unserer kleinen Wohngemeinschaft, machen eine Flasche Wein auf. Und während wir drei Mütter uns über Schule, Job und Bettzeiten austauschen, spielen die Mädchen erst ein Pferdekarten-Quiz und dann selber Pferd. Milla treibt Odile und Lilli mit der Gerte im Longierzirkel durch den Nieselregen.
Die nächsten Tage sind für mich ein Auf und Ab. Mal mache ich mich ganz gut am und sogar auf dem Pferd, dann bin ich eine Bedrohung für die Tierwelt: zum Beispiel als ich Candy falsch im Stall anbinde („Wenn das Seil zu lang hängt, kann sie sich erwürgen!“) oder sie Popo an Popo zu einem anderen Pferd stelle („Pass auf, so erschrecken sie sich doch!“).
Ganz anders läuft es bei Milla. Obwohl sie eigentlich eher schüchtern ist, bewegt sie sich auf dem Hof, als wäre sie hier und nicht in Berlin-Mitte aufgewachsen. Sie streichelt die Pferde, krault die Hunde, sie ist umsichtig, fürsorglich und verantwortungsvoll. Und sie scheint sogar ein gewisses Reittalent zu haben. Zumindest klappt das Leichttraben im Longierzirkel, für das man im Rhythmus des Pferdes mit dem Po auf- und abgeht, bei ihr sofort. „Kinder lernen schneller, weil sie unbedarfter an die Sache herangehen. Sie sind nicht so verkopft“, sagt Anja zu mir. „Das musst du erst einmal hinkriegen.“
In unserer Reitwoche tauschen meine Tochter und ich die Rollen. Sie wird zum selbstsicheren, vernünftigen Erwachsenen und ich zum unbeholfenen, bockigen Kind. Während ich immer häufiger im Stall auf einem Heuballen hocke, um das Treiben von dort zu verfolgen, kann Milla von den Pferden nicht genug bekommen. Sie flechtet ihnen verzückt Zöpfe in die Mähnen, striegelt noch das letzte Staubkorn aus ihrem Fell. Lässt eines der Tiere in der Reithalle Pferdeäpfel fallen, ist Milla die Erste, die unaufgefordert mit einer Schaufel losrennt, um sie wegzuräumen.
Die Arbeit am Pferd, also alles vom Ausmisten bis zum Aufsatteln, holt das Beste aus meiner Tochter heraus – und macht mich furchtbar stolz. Das geht schon morgens los. Denn obwohl sie jeden Tag bis Mitternacht mit Odile auf dem Trampolin im Garten turnt, quält sie sich um acht Uhr aus dem Bett. Denn dann werden die Pferde auf die Koppel gelassen, der Stall muss ausgemistet und die Futterstellen aufgefüllt werden. Das darf sie auf keinen Fall verpassen. Auch wenn ihr nach dem Aufstehen die Tränen in die Augen steigen. So fertig ist sie.
In den nächsten Tagen wird meine Stimmung besser. Die Mädchen dürfen voltigieren, geführte Ausritte unternehmen, und wir machen lustige Spielchen auf und mit den Pferden. Mit der Zeit gewöhne ich mich an meine Rolle, mache weniger falsch und genieße es, morgens aus der grün gestrichenen Haustür in den Sonnenschein zu treten und von den Pferden auf der Koppel mit einem lauten Schnauben begrüßt zu werden. Und als wir alle gemeinsam einen kleinen Ausritt machen, fühlt sich das richtig nett an. Ich sitze herrschaftlich auf einem großen braunen Wallach namens Nemo, und wir schreiten an Feldern und Wiesen vorbei. Wenn nur Anja nicht wäre, die neben mir herläuft und Nemo am Seil führt. Das hat dann doch wieder etwas von Ponyreiten auf dem Jahrmarkt.
Aber meine Angst scheint kleiner geworden zu sein. Zeit für einen Realitätscheck. „Hattest du eigentlich schon mal einen Reitunfall?“, frage ich Anja, als wir in ein Waldstück einbiegen. „Mehrere“, antwortet sie. „Ich war eine Kamikazereiterin, und niemand hat uns Kinder damals aufgehalten. Wenn Mensch und Pferd sich gegenseitig nicht einschätzen können, der Reiter das Tier nicht versteht und nicht weiß, was zu tun ist, wenn ein Pferd zum Beispiel durchgeht, ist das schlecht.“ So schlecht, dass auf dem Reiterhof, wo sie als Kind geritten ist, ein 15-jähriges Mädchen nach einem Unfall sogar gestorben ist. „Die Kinder müssen nicht gleich ins Gelände galoppieren. Damit tut man niemandem einen Gefallen“, sagt Anja. Lieber sollte man die Kinder vorsichtig und spielerisch ans Pferd heranführen, zum Beispiel durchs Voltigieren, durch geführtes Reiten oder Bodenarbeit.
Also doch zu Hause keine Reitstunden für Milla? „Seriöse Schulen lassen kleine Kinder nicht selbstständig reiten“, sagt Anja. Sind sie jünger als neun oder zehn, können sie mit ihren kurzen Beinen und dem geringen Körpergewicht ein Pferd kaum kontrollieren. Milla muss also noch warten, bis sie richtig losreiten kann. Ich hingegen habe mein erstes großes Erfolgserlebnis am vorletzten Tag unserer Reitwoche. Zu Beginn hatte Anja gefragt, was wir uns wünschen: Ich wollte einmal frei reiten, also ohne Longe oder Seil, an dem mich einer führt. Worüber Anja lachen musste: „Wir können es versuchen, aber das wird nicht klappen“, sagte sie. Im Gelände sollte ich das frühestens in zwei Jahren probieren.
In der Halle sitze ich nun auf einem Pferd. Auf meinen speziellen Wunsch nicht auf Candy, sondern auf Ronny – einem kleinen Pony, für das ich eigentlich ein wenig zu groß und zu schwer bin. Aber kurz wird es gehen. Ich lehne mich nach vorn, Ronny geht tatsächlich zurück. Ich verlagere mein Gewicht nach links, öffne die Zügel nach links, schaue links, drücke mit dem rechten Schenkel, und das Pony geht tatsächlich nach … links. Wer sagt’s denn.
© Sandra Winkler
Nido 05/2017
Fotos: Julia Zimmermann