www.sandrawinkler.de / Nach der Krebsdiagnose: Was hast du, Mama? / 2024-12-22 11:21:39
Als ich im vergangenen Jahr die Diagnose Brustkrebs bekam, war ich erst einmal mit mir selbst beschäftigt: Ich musste die Nachricht begreifen, mir die richtigen Ärzte suchen, mich um die Therapietermine kümmern, mit der Angst klarkommen, die mich immer wieder überfiel. Und ich weiß noch, dass ich es irgendwie komisch fand, ja fast nervig, dass meine Onkologin mich bei jedem Termin fragte: „Haben Sie es schon ihren Kindern gesagt?“ Dafür hatte ich gar keinen Kopf.
Meine kleine Tochter war damals fünf, die große zehn. Im Nachhinein wundere ich mich, dass ich mir so wenig Gedanken darüber gemacht habe, wie ich ihnen die schlechte Nachricht überbringe. Erst später wurde mir bewusst, dass die Krankheit der Mutter auch für die Kinder eine Gefühlsachterbahn bedeutet. Aber wie erklärt man ihnen, was es bedeutet, eine Chemotherapie machen zu müssen und plötzlich Todesangst zu haben? Soll man es ihnen überhaupt sagen?
Das Robert-Koch-Institut schätzt, dass jährlich etwa 50.000 Kinder und Jugendliche einen Elternteil haben, bei dem neu Krebs festgestellt wird – hinzu kommen natürlich noch Mütter und Väter mit anderen schweren Erkrankungen. Einige der Betroffenen behalten die Diagnose für sich. „Ich hatte einen Patienten – einen Hafenarbeiter, ein kräftiger Typ – der an Krebs erkrankte und auf gar keinen Fall wollte, dass seine drei Kinder davon erfahren“, erinnert sich Anja Mehnert-Theuerkauf, Professorin für Psychologie am Universitätsklinikum Leipzig. Sie sollten ihn nicht schwach sehen. Zur Chemotherapie ist er heimlich gegangen.
Das ist zwar auch eine Möglichkeit, mit der Situation umzugehen. Experten wie Anja Mehnert-Theuerkauf raten aber zur Offenheit. „Alle Untersuchungen zeigen, dass Eltern ihre Kinder über die eigene Erkrankung aufklären sollten.“ Der simple Grund: Sie merken es sowieso.
Schnelle Wahrnehmung
Auch wenn die Kleinen es vielleicht noch nicht benennen können, nehmen sie in der Regel sofort wahr, wenn in der Familie etwas nicht stimmt, Themen vermieden werden, Eltern traurig oder unruhig sind. „Und verstehen Kinder eine Situation nicht, dann füllen sie ihr Unwissen mit Fantasie“, so Mehnert-Theuerkauf. Diese kann mitunter bedrohlicher sein als die Wirklichkeit. Häufig suchen die Kleinen die Schuld für die Veränderung in der Familie bei sich: Liegt es an mir? Habe ich etwas falsch gemacht?
Offene Gespräche hingegen sorgen für Sicherheit und häufig auch für Erleichterung. Endlich erfahren die Kleinen den Grund dafür, warum Mama so komisch war oder Papa geweint hat. Außerdem zeigt man Kindern so nicht nur, wie man mit einer Krankheit umgehen kann, sondern auch generell Rückschläge und schwierige Zeiten im Leben meistert. Auch hat es etwas Verbindendes, die Kinder einzuweihen, gilt als Vertrauensbeweis.
Beim Übermitteln der schlechten Nachricht gilt die Faustregel: Lieber früh als spät. Lieber spät als nie. Auf jeden Fall sollte man warten, bis die Diagnose gesichert ist und man eine Vorstellung davon hat, wie es weitergeht. Am besten versuchen Eltern zu erklären, was sich im Alltag ändern wird – und was bleiben kann, wie es ist. Mama muss einmal die Woche zum Arzt, aber sie liest weiterhin jeden zweiten Abend eine Gute-Nacht-Geschichte vor. Das beruhigt. Über Dinge zu sprechen, die in der Zukunft liegen und unvorhersehbar sind, sorgt hingegen eher für Unsicherheit.
Wie man die Tatsache, schwer erkrankt zu sein, am besten vermittelt, ist dann abhängig vom Alter der Kinder: Einem Jugendlichen kann man natürlich schon mehr zutrauen als einem Grundschulkind, und ein Grundschulkind versteht vieles besser als ein Kind, das noch in die Kita geht. Aber bereits Zweijährigen sollte man die Situation erläutern – wenn auch möglichst simpel: „Ich habe in kurzen und einfachen Sätzen gesprochen“, sagt Mandy Falke, die 2017 die Diagnose Brustkrebs erhielt. Sie habe eine schlimme Erkrankung, bekomme starke Medikamente, weswegen ihr die Haare ausfallen werden, erklärte sie damals ihren drei- und vierjährigen Kindern.
Grundsätzlich sollte man versichern, dass die Krankheit nicht ansteckend ist und keiner Schuld daran trägt, dass jemand krank wurde. Kinder sind egozentrisch und glauben, dass Dinge durch ihr Tun oder Lassen passieren: Ich war frech zu meinem Papa, deshalb geht es ihm jetzt schlecht.
Für viel mehr Informationen reicht die Aufmerksamkeitsspanne der Kleinen meist gar nicht aus. „Für meinen damals Dreijährigen war das Thema zu groß. Er hat es in seiner Brisanz nicht greifen können und wirkte manchmal schon gelangweilt davon“, erinnert sich Mandy Falke. Meine sechsjährige Tochter konnte meine Krankengeschichten irgendwann einfach nicht mehr hören: „Du und dein blöder Krebs, das nervt“, platzte es aus ihr heraus. Sie jammere ja auch nicht, obwohl sie sich heute wehgetan habe.
Mandy Falke gab ihren Kindern die Gelegenheit, mit einer großen Handpuppe über ihre Erkrankung zu sprechen. „Mit der Puppe habe ich einen ganz anderen Zugang zu den Kindern bekommen. In Rollenspielen haben sie ihr Dinge erzählt, die sie mir nicht gesagt haben.“ Auch Bücher können helfen zu vermitteln. Empfehlenswert sind zum Beispiel „Mut im Hut: Meine Mama hat Krebs“ von der Rexrodt-Stiftung oder „Wie ist das mit dem Krebs?“, in dem eine Biologin die Krankheit kindgerecht erklärt.
Gerade kleine Kinder müssen nicht jedes Detail über Krankheit und Behandlung wissen. „Viele Kinder entlastet es schon, wenn sie das Gefühl vermittelt bekommen, alles zu jeder Zeit fragen zu dürfen“, so Mehnert-Theuerkauf. Aber was ihnen die Eltern sagen, sollte immer der Wahrheit entsprechen. „Nennen Sie auch das Wort ‚Krebs‘“, hat mir meine Onkologin geraten. Die meisten Kinder wissen, dass es den nicht nur am Strand gibt. Vielleicht ist der Opa daran gestorben oder die Oma des besten Freundes. Versucht man das Wort zu vermeiden und die Kinder schnappen es später auf, denken sie, man verheimliche ihnen etwas.
Älteren Kindern sollte man immer wieder Gespräche anbieten und alle Fragen beantworten. „Fragen Kinder etwas, dann sind sie auch bereit, die Antwort zu bekommen“, meint Mehnert-Theuerkauf. Häufig ist es zudem ratsam, ein Treffen mit einer Ärztin oder einem Arzt zu vermitteln, die oder der mit den Kindern auch über das eigene Risiko zu erkranken sprechen, das Jugendliche häufig beschäftigt.
Lehrer und Klassenkameraden sollte man informieren und sie einbinden. Manchmal behalten Kinder die Krankheit der Eltern lieber für sich, weil sie ihnen peinlich ist, oder Freunde ziehen sich zurück, weil sie mit der Situation nicht umgehen können. Dann ist es gut, wenn Lehrer und Eltern versuchen zu vermitteln.
Schreitet die Krankheit voran oder beginnt eine kräftezerrende Chemotherapie, sehen Kinder ihre Eltern in einer Verfassung, die erschreckend sein kann. Als Anna Mekhail im vergangenen Jahr eine Chemotherapie machen musste, war das für ihren vierjährigen Sohn nur schwer zu begreifen. Der Kleine konnte einfach nicht verstehen, warum die Mama nicht mit ihm spielen wollte, wenn er aus dem Kindergarten nach Hause kam. Stattdessen lag sie wie erschlagen auf der Couch oder hing über der Toilette, weil sie sich übergeben musste. „Mein Sohn war total traurig, so richtig verzweifelt“, erinnert sich die Sozialpädagogin aus Ulm. „Ich wusste nicht, wie ich ihm da durchhelfen sollte.“
Eine rettende Idee hatte die Patentante des Jungen. Sie erklärte ihm, dass die Polizei in Mamas Körper nicht richtig aufgepasst und Bösewichte durchgelassen habe. Nun müsse immer wieder das Sondereinsatzkommando anrücken, um diese Eindringlinge zu bekämpfen. Eine Geschichte, die dem Patensohn gefiel. Lag die Mutter nach der Chemotherapie erschöpft im Bett, malte er sich aus, wie in ihrem Körper gerade ordentlich rumgeballert wurde: „Ah, jetzt räumt das SEK wieder auf!“
Spielerisch mit der Krankheit umzugehen, kann Kindern helfen. Meine Tochter hat häufig so getan, als würde sie mich an meinem Port ein- und ausschalten. Der Port ist ein implantierter Medikamenten-Zugang, der aussieht wie ein daumengroßer Knopf, der unter der Haut liegt. Außerdem hat sie mir gern über den „flauschigen“ Kopf gestreichelt, der so weich wie der ihres Teddys war.
Manchen Kindern hilft es auch, wenn sie sich vorstellen, dass sie ihre Ängste in der Dusche abwaschen oder negative Gefühle wegklopfen können. Ein anderer Tipp: Man öffnet gemeinsam ein Fenster, damit die blöden Gedanken wegfliegen können.
Die Kinder einzubeziehen, reduziert ihre Ängste. Ich kenne Frauen, die sich von ihnen die Haare abrasieren ließen, bevor sie ihnen durch die Chemotherapie ausgefallen sind. Manche Jungen haben sich solidarisch den Kopf gleich mitgeschoren. Mandy Falke hat ihre Kinder mit zur Chemotherapie genommen: „Wenn ich sage, ich bekomme dort starke Medizin, von der gehen mir sogar die Haare aus, dann klingt das ja so, als würde ich dort gemartert werden“, so die 35-Jährige. Beim Onkologen haben die Kinder dann gesehen, dass man stattdessen auf gemütlichen Sesseln sitzt, etwas Kleines zu essen bekommt, Musik hört oder liest, während die Medikamente durchlaufen.
Bloß kein künstliches Lächeln
Auch ihre eigenen Gefühle sollten Eltern nicht verstecken, sondern auch mal vor den Kindern weinen oder über die Angst sprechen. „Spielen Sie Ihrem Kind nichts vor“, rät Mehnert-Theuerkauf. Setzt man ein künstliches Lächeln auf, obwohl es einem schlecht geht, verwirrt das ein Kind. Es kann seinem Bauchgefühl nicht mehr vertrauen.
Jedes Kind geht mit der Krankheit eines Elternteils anders um. Manche reagieren aggressiv und frustriert, andere zeigen sich desinteressiert, sind verängstigt oder verschwiegen. Meine damals zehn Jahre alte Tochter hat nicht gern mit mir über das Thema Krebs gesprochen, dafür aber ganz locker und offen mit ihren Freundinnen geredet. Auf mich wirkte es so, als käme sie gut mit der Situation klar. Bis mich die Mutter einer Schulkameradin anrief: Meine Tochter hatte im Unterricht geweint. Danach habe ich mir Sorgen gemacht. Doch Weinen sei nichts Schlimmes, meint Mehnert-Theuerkauf. Im Gegenteil: „Das alles gehört zu einer normalen Verarbeitung – genau wie Konzentrationsschwierigkeiten, Appetitlosigkeit, Kopfweh, Bauchschmerzen oder Schlafprobleme. Manche Kinder fangen auch wieder an, ins Bett zu machen.“
Weil sie das Gefühl haben, sie sollten für die kranke Mama oder den kranken Papa da sein und sie unterstützen, gehen manche Jugendliche kaum noch raus und treffen selten Freunde. Aber gerade in der Pubertät ist es wichtig, dass Kinder die Chance haben, sich abzunabeln. Sie brauchen Abstand von der Familie und deren Problemen. „Man muss aufpassen, dass man größere Kinder nicht zu Co-Therapeuten macht“, so Mehnert-Theuerkauf. „Es ist nicht kindgerecht, wenn sie einem ständig die Hand halten wollen.“
Zieht sich ein Kind auffallend stark zurück oder dauert die Phase der Verarbeitung ungewöhnlich lange, können Eltern einen Freund der Familie oder einen Verwandten bitten, mit dem Kind zu sprechen. Oder man nimmt professionelle Hilfe in Anspruch. Beratungsstellen für Kinder krebskranker Eltern bietet zum Beispiel die Deutsche Krebsgesellschaft oder der Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums.
„Behalten Sie Ihr Kind im Auge“, rät Mehnert-Theuerkauf. „Versuchen Sie zu trösten und sich, so gut es geht, einzufühlen.“ Am Ende meiner Therapie habe ich meine große Tochter direkt gefragt, wie sie die zurückliegenden Monate erlebt hat. Ihre Antwort: „Mama, es tut mir total leid, aber ich vergesse immer, dass du krank bist.“ Und ich denke: „Das macht gar nichts, mein Schatz.“
© Sandra Winkler
Berliner Zeitung 15.01.2021
Fotos: Imago Images / Andrea Obzerova