www.sandrawinkler.de / Zuckerwatte für die Ohren / 2025-04-18 16:16:32
Wer dieser Tage auf der Suche nach Geschenken durch die Geschäfte hetzt, strapaziert nicht nur seine Füße. Auch die Ohren leiden: "Last Christmas", "Kling Glöckchen" und ein Dutzend Versionen von "Jingle Bells" dröhnen aus allen Ecken, als säße man in einem Leierkasten. Da wünscht man sich am Ende nur noch eines: "Stille Nacht, heilige Nacht".
Der Wunschzettel treibt einen in die Geschäfte, die Musik schnell wieder heraus. Die Verkäufer haben es noch schwerer. Sie sind dem musikalischen Brei aus Schneeflöckchen und Weißröckchen von morgens bis abends ausgeliefert. Als "seelische Grausamkeit" bezeichnete die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi diese Dauerbeschallung der Angestellten vor ein paar Tagen. Zumindest Rückzugsmöglichkeiten wie stille Pausenzonen in den Kantinen forderte Roland Tremper, Bezirksgeschäftsführer in Berlin. Denn sonst, so malt es sich Tremper aus, werden die gestreßten Seelen an Weihnachten unterm Christbaum nur noch Heavy Metal hören.
Unschöne Vorstellungen weckt auch eine Studie der Gewerkschaft der Privatangestellten in Oberösterreich: Ständige Berieselung mit Weihnachtsliedern macht die Kaufhausmitarbeiter aggressiv und angriffslustig. Um Ausschreitungen gegen Kunden zu vermeiden, schlägt der Regionalsekretär der Gewerkschaft, Gottfried Rieser, vor, "O Tannenbaum" künftig nur noch ein paar Stunden am Tag zu spielen und auch dann nur dort, wo es einen Sinn ergebe. Wieso soll der Kunde an der Wursttheke denn auch in besinnliche Stimmung versetzt werden? Rieser denkt sogar schon über saisonale Gehaltserhöhungen nach - als eine Art Schmerzensgeld.
Die Dauerberieselung quält jedoch nicht nur zur Weihnachtszeit. Harald Fiedler, Vorsitzender des Vereins "Pipe Down - Lautsprecher aus e.V." kämpft das ganze Jahr über gegen den Klangteppich, der in Geschäften, Restaurants, Friseursalons, Flugzeugen und inzwischen sogar vermehrt in Arztpraxen ausgerollt wird. "Pipe Down" heißt soviel wie "Halt die Klappe!" Den Namen hat der Verein mit Sitz in Schleswig-Holstein von seinem englischen Vorbild übernommen - als Zeichen internationaler Geschlossenheit sozusagen. Die englischen Kollegen, die derzeit verstärkt gegen aufgezwungene Musik in Krankenhäusern angehen und einen Führer für musikfreie Kneipen herausbrachten, waren 1992 die ersten in Europa, die sich als eine Gemeinschaft gegen Dauerlärm zusammenschlossen. Inzwischen haben sich ähnliche Organisationen auch in Österreich, Kanada und Holland etabliert.
"Stille ist ein menschliches Recht. Musik setzt Freiwilligkeit voraus und darf niemandem aufgenötigt werden", sagt Fiedler. Und auf diesem Recht beharrt der pensionierte Musik-Oberstudienrat vehement. Betritt er ein Geschäft, in dem es aus den Boxen dröhnt, geht der Dreiundsiebzigjährige schnurstracks zum Verantwortlichen und läßt für die Zeit seines Einkaufs die Musikkonserve ausstellen. Kürzlich erst wieder im Modehaus "Peek & Cloppenburg" in Hamburg: "Wollen Sie den Mantel verkaufen oder Musik hören?" fragte Fiedler einen uneinsichtigen Abteilungsleiter, woraufhin dieser die Beschallung für eine halbe Stunde abschaltete. Ein kleiner Erfolg im Kampf gegen die musikalische Umweltverschmutzung. Größere Siege für die Stille feierte der Verein "Pipe Down", als auf sein Drängen hin am Flughafen Langenhagen in Hannover die Dauerberieselung eingestellt wurde. Und in Kassel verhinderten die Freunde der Ruhe das geplante Gedudel in der Straßenbahn.
Dabei hat Fiedler eigentlich nichts gegen Krach im allgemeinen. Bau- oder Straßenlärm, so sagt er, mache ihm nichts aus. "Ich wohne ja schließlich auch in einem Haus, das gebaut werden mußte, und fahre ein Auto. Dieser Lärm ist notwendig und neutral." Musik hingegen sei ein Informationsträger und gehe nicht nur durch die Ohren, sondern ebenso durch das Gemüt und das ästhetische Geschmackszentrum - sofern man denn eins habe.
Aber auch dem Körper soll die Beschallung schaden. Streßsituationen - und wer will bestreiten, daß Einkaufen dazu gehört? - werden durch Dauermusik angeblich noch verstärkt. Zwangsberieselung kann den Blutdruck erhöhen, das Immunsystem schwächen, Schlaflosigkeit und Nervosität auslösen und sogar Herz- und Magenprobleme hervorrufen. Die Beschwerden treten wie beim Rauchen schleichend und vor allem zunächst unbemerkt auf. "Ach, das höre ich gar nicht mehr", antworteten 40 Prozent der Personen, die nach Backgroundmusik befragt wurden.
Warum dann überhaupt dieser Akustik-Terror? "Die Musik soll den Kunden stimulieren, für gute Stimmung sorgen", sagt Theo Soeken von der Unternehmensberatung BBE, einer Tochter des Hauptverbandes des Deutschen Einzelhandels. Ob sich die Kunden diese Fröhlichkeit aber überhaupt wünschen, weiß Soeken nicht. Es ist ihm auch egal. Seine Vorstellung von Dauerberieselung der Käufer erinnert an Studien, die vor einigen Jahren Furore machten: Kühe, so hieß es, würden mehr Milch geben, hörten sie beim Melken Musik. Mehr Milch von der Kuh - mehr Geld vom Kunden.
Daß Hintergrundmusik den Hörer beeinflußt, steht dabei außer Frage: Bereits während des Zweiten Weltkrieges standen in den amerikanischen Waffenfabriken Lautsprecher, um durch sogenannte funktionale Musik die Leistung der Arbeiter zu steigern. Die behutsam nachgespielten Orchesterversionen von Pop-Hits wurden Muzak genannt, nach dem weltgrößten Lieferanten von Konservenmusik aus den Vereinigten Staaten, der erstmals spezifische Musikprogramme für Supermärkte, Restaurants und natürlich für Fahrstühle produzierte. Muzak wurde zum feststehenden Begriff für Klangtapeten.
Heute dient dieser typische Sound höchstens noch zur Untermalung von Pornofilmen. Eine Mischung aus Chill Out, TripHop, seichtem R & B, Mainstream-Rock und Pop ersetzte das sterile Easy Listening. Warum sollte man schließlich einen flauschigen Ronan-Keating-Song durch Orchestermusik abschwächen, warum eine sanfte Ballade von Robbie Williams noch zusätzlich glätten?
Während die Firma Muzak in Amerika nach wie vor die meisten Geschäfte beschallt, heißt der Marktführer in Deutschland P.O.S. Radio: 8000 Läden versorgt das Kieler Unternehmen via Satellit und erreicht so mehr als eine Million Zuhörer in der Stunde. Es gibt Standardprogramme, auf Wunsch wird die Musik aber auch auf spezielle Käufergruppen zugeschnitten, um das Einkaufsverhalten zu beeinflussen. So fand die britische Universität Leicester heraus, daß Kunden lieber französischen Wein mit nach Hause nehmen, wenn am Weinregal französische Akkordeonmusik gespielt wird. Nach deutschen Tropfen greifen sie hingegen, wenn Blasmusik einsetzt. Langsame Stücke bremsen das Schrittempo der Einkäufer, sie blieben also länger im Laden, sagen Musikpsychologen.
Daß deshalb mehr Geld in die Kassen kommt, wurde bislang allerdings nicht belegt. Im Gegenteil: Bei einem Test in England wurde ein Supermarkt einen Tag lang mit Musik und Werbung berieselt, am darauffolgenden blieb das Akustikangebot aus. Am Umsatz änderte sich nichts. Auch Martin Langhauser von der Gesellschaft für Konsumforschung bestätigt: Aufgrund des "Ladenfunks" wird selten ins Regal gegriffen. "Wenn der Handelspartner sich und dem Kunden etwas Gutes tun möchte, dann verteilt er am besten Kostproben im Laden", lautet sein Vorschlag. Gut für Bauch und Ohren.
Ein ganz eigenes Phänomen sind Ketten wie "Orsay", "Foot Locker" oder "New Yorker", die ihr meist noch sehr junges Publikum mit Musik in einer Lautstärke volldröhnen, die den Dezibelzahlen einer Diskothek Konkurrenz macht. In diesen Fällen schwäche die Backgroundmusik das kritische Bewußtsein, glaubt der englische Musikwissenschaftler Philip Tagg vom Institut für Populäre Musik in Liverpool. Denn während Stille Raum zum Reflektieren lasse, lenke die Partyatmosphäre von rationalen Überlegungen ab wie: "Brauche ich diesen Pullover wirklich, schließlich habe ich schon fünf im Schrank?"
Vielleicht sollten wir die Vorweihnachtszeit deshalb lieber in diesen wenig beschaulichen Hallen verbringen. Dann müssen wir zumindest nicht fürchten, Heiligabend längst überfüttert von weihnachtlichen Klangkonserven und aufgesetzter Besinnlichkeit zu sein. Auch wenn dann eben nur Turnschuhe und Jeans unterm Weihnachtsbaum liegen.
© Sandra Winkler
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 21. Dezember 2003