Nido

Datum: 2/2018
Fotos: Benne Ochs

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Wo steckt es bloß, das Genie?

Das eigene Kind ist immer besonders begabt, schon klar. Dabei nützt es ihm viel mehr, wenn Eltern sich nichts vormachen

Gerade ist der letzte Ton einer Etüde von Liszt verklungen: „Vielleicht noch den Liebestraum Nr. 3?“, fragt Ben erwartungsvoll. Der Junge in khakifarbenen Shorts rutscht auf dem Klavierhocker in die richtige Position, sucht mit dem Fuß das Pedal, setzt die Finger auf die Tasten. Dann taucht er ganz entspannt in das Klavierspiel ein – schnelle Abfolgen, energische Passagen, federleichte Töne. Seine Augen sind halb geschlossen, Noten braucht er keine.
Als er das Stück geübt hat, erzählt Ben später, ist seine Nagelhaut immer wieder eingerissen, weil er dabei so häufig das Glissando spielen musste, das Streichen der Tasten mit der Oberseite der Fingerkuppen: „Hoffentlich passiert das nicht mehr, wenn ich einmal größere Fingernägel habe.“
Ben Lepetit ist elf Jahre alt. Und jetzt schon ein Ausnahmetalent. Mit acht Jahren wurde er Jungstudent in Weimar und geht dort seit diesem Schuljahr auf das Musikgymnasium, das Hochbegabtenzentrum der Hochschule. An der Wand hinter seinem Flügel hängen gerahmte Porträts von Tschaikowsky, Chopin, Liszt, Bach, Beethoven und Fotos von Ben. Ben mit der Bundeskanzlerin, Ben mit Kai Pflaume, in dessen Show „Klein gegen Groß“ er auftrat, Ben mit dem chinesischen Weltklassepianisten Lang Lang, dem er schon einmal vorspielen durfte.
Bei der international besetzten Robert- Schumann-Competition in Düsseldorf belegte Ben den zweiten Platz, hinter einem zwei Jahre älteren Mädchen aus Russland. Für solche Erfolge übt er zwei bis zweieinhalb Stunden am Tag, am Wochenende drei. Einmal die Woche hat er Kompositionsunterricht. Und das alles freiwillig, wie Ben, Mutter und Vater beteuern: „Gerade bei der Musik wird den Eltern oft unterstellt, dass sie ihre Kinder zum Üben zwingen, sie drillen. Aber würde Ben jeden Tag stundenlang Fußball spielen, da würde keiner sagen: „Ach, das arme Kind!“, meint die Mutter.
Ben übt zurzeit 14 Stücke für einen großen Wettbewerb und für drei Klavierabende. Zwei habe er zusätzlich heimlich gelernt, gesteht er: „Klavierspielen ist für mich, wie ein Orchester zu dirigieren. Es macht mir einfach großen Spaß.“ Und natürlich steht Bens Berufswunsch längst fest: Solist möchte er werden und als solcher viel herumreisen.
Beneidenswert, wenn ein Kind schon so früh so genau weiß, was es will. Und auch noch die Begabung und den Ehrgeiz besitzt, es umzusetzen. Nun hat nicht jeder solch ein Wunderkind zu Hause. Aber die meisten Eltern hoffen doch, dass sich auch in ihrem Nachwuchs ein Talent versteckt, auch wenn’s eine Nummer kleiner ist.
Doch woran erkennt man, dass das Kind etwas Besonderes kann? Ist es begabt, weil es etwas besser macht als etwas anderes oder weil es etwas besser macht als andere? Die gesündere Haltung ist vermutlich, sich auf das eigene Kind zu konzentrieren, es nicht mit anderen zu vergleichen. „Doch leider neigen wir dazu, die Ideologien unserer Leistungsgesellschaft auf unsere Kinder zu übertragen. Glücklich werden wir sie damit nicht machen“, sagt Gerald Hüther, Neurobiologe und Co-Autor des Bestsellers „Jedes Kind ist hoch begabt“: „Wir müssen uns deutlich machen, dass jedes Kind anders ist, keins ist besser oder schlechter. Jedes Kind kann irgendetwas ganz besonders gut.“ Und darin sollte man es dann fördern.
Klingt leicht. Ist es aber nicht. Ich habe zwei Töchter und unterschwellig die Sorge, ich könnte eine in ihnen schlummernde Begabung nicht rechtzeitig wecken. Vielleicht ist die Achtjährige eine zweite Pina Bausch, die Vierjährige die nächste Anne-Sophie Mutter – und ich merke es nicht.
Stets höre ich die Uhr leise ticken, auf der die Zeit abläuft, die ich habe, das Talent meiner Töchter zu entdecken. Manchmal wird das Ticken lauter. Zum Beispiel, als ich kürzlich eine ehemalige Eiskunstlauf-Weltmeisterin im Café eines Eisstadions interviewte und eine Mutter an unseren Tisch trat: Ihre beiden Töchter hätten gerade erst mit dem Eislaufen angefangen und würden sich sehr über ein Autogramm freuen. „Wie alt sind denn die beiden?“, fragte die Sportlegende. Die Kleine sei vier, die Große – na ja, die sei leider schon sieben. Beide nickten sich wissend zu. Als die Mutter weg war, fragte ich meine Gesprächspartnerin: „Warum denn leider?“ – „Na ja, mit sieben ist sie für eine Eislaufkarriere schon zu alt“, war die kalte Antwort. Ticktack.
„Um herauszufinden, wofür ein Kind eine Begabung hat, müssen Eltern ihm nur zusehen, wie es gemeinsam mit anderen unbekümmert und frei spielt“, rät Gerald Hüther. Dann wird jedes Kind genau das besonders intensiv machen, wofür es ein Talent hat. Die Gefahr, eine Begabung zu übersehen, bestehe nur, wenn Eltern sich nicht vom eigenen Ego lösen könnten: „Man kann mit der Aufmerksamkeit nicht beim Kind sein, wenn man mit eigenen Wünschen beschäftigt ist, die davon handeln, was man sich vom Nachwuchs erhofft“, so Hüther. Das Kind dürfe nicht zum Objekt elterlicher Absichten, Bewertungen und Vorstellungen gemacht werden. Denn unter Druck entfaltet sich nichts und niemand.
Dass Eltern heute so verbissen nach den Talenten ihrer Kinder suchen, ist einer gesellschaftlichen Entwicklung geschuldet: „Seit Jahren kommt die Aussage ‚Mein Kind ist durchschnittlich‘ einer Beleidigung gleich“, sagt Uta Reimann-Höhn, Diplom- Pädagogin und Gründerin des Internetportals Lernfoerderung.de. „Das ist ein Ausdruck unserer Selfie-Kultur. Das Kind muss etwas ganz Besonderes sein, sich von anderen abgrenzen.“ Selbst wenn es das gar nicht will, weil Kinder sich in der Regel lieber in eine Gruppe einfügen, als daraus hervorzustechen.
Natürlich spricht so manche Erfolgsgeschichte für einen Frühstart: Boris Becker ging mit drei Jahren zum ersten Mal als Sieger vom Tennisplatz, Fred Astaire stand mit sieben schon auf der Bühne. Jana Schneiders Vater erklärte seiner Tochter bereits Schach, als sie vier Jahre alt war. Spielerisch. Sie hüpften über die Terrasse wie der Springer auf dem Schachbrett und ersetzten beim Schachspiel die Bauern durch motivierende Gummibärchen. Heute ist Jana 16, sie war mehrfache deutsche Mädchenmeisterin, hat 2017 die deutsche Frauenmeisterschaft gewonnen und spielt in der Damen-Nationalmannschaft.
„Eltern stellen wichtige Weichen“, sagt auch Ben Lepetits Vater Bela und erinnert an Leopold Mozart, einen Violinisten und guten Musikpädagogen, der seinem kleinen Sohn Wolfgang Amadeus bereits mit vier Jahren den ersten Unterricht in Klavier, Violine und Komposition gab. Gerade bei musikalischen Wunderkindern ist auffällig, dass viele von ihnen mindestens einen Elternteil haben, der professionell ein Instrument spielt. So auch Ben. Mutter und Vater sind Violinisten. Im Wohnzimmer stapeln sich Klassik-CDs, die Notenblätter der Eltern türmen sich im Schrank.
Ben hat mit dreieinhalb seinen ersten Klavierunterricht bekommen, ein Alter, in dem manche Kinder noch Windeln tragen. Der dringende Wunsch danach ging von ihm aus, sagen die Eltern. Sein großer Bruder bekam bereits Unterricht, und das wollte er auch.
Aber immerhin: Bis zum Alter von drei Jahren, so meinen Experten, können Eltern sich noch zurücklehnen und sollten ihren Kindern nur anbieten, was sie unbedingt einfordern. Danach kann man aber schon die Augen nach einer Begabung offen halten: Womit beschäftigt sich das Kind am liebsten, selbstständig und über längere Zeit? Was kann es gut? Worin macht es schnell Fortschritte?
„Suchen Sie nicht verzweifelt nach dem Talent, sondern bemühen Sie sich, die Begeisterung für etwas herauszukitzeln“, rät Kai Bestmann, leitender Psychologe von Mensa, einem Verein für Hochbegabte.
Wer sich hochbegabt nennen darf, ist klar definiert. Sie oder er muss einen IQ von über 130 vorweisen (der durchschnittliche Wert liegt bei 100, zwei Drittel der Menschen haben einen IQ zwischen 85 und 115). Bestimmte Regionen im Gehirn dieser hochintelligenten Menschen verarbeiten Informationen, Eindrücke und Sinnesreize besonders schnell. Lediglich zwei bis drei Prozent der Bevölkerung können das von sich behaupten. Es geht also bei diesem Verständnis von Hochbegabung ausschließlich um kognitive Fähigkeiten.
Aber auch ein durchschnittlich intelligentes Kind kann ein überdurchschnittliches Talent haben, das zu entdecken sich lohnt: etwa indem man ihm Bücher über sehr unterschiedliche Themen besorgt, es verschiedene Sportarten testen lässt oder ihm ein sogenanntes Instrumentenkarussell an einer Musikschule anbietet – bei dem das Kind Gitarre, Schlagzeug, Trompete und noch viel mehr ausprobieren kann. Und dann schaut man, was nachklingt. „Es braucht die Disziplin der Eltern, immer wieder neue Angebote in den Raum zu stellen – und ergebnisoffen zu gucken: Passiert da was oder passiert nichts?“, meint Bestmann. Denn nur wovon ein Kind wirklich begeistert ist, damit wird es sich freiwillig stundenlang täglich und über Jahre beschäftigen. Und das ist eine wichtige Voraussetzung, wenn man in einer Sache richtig gut werden möchte.

Der schwedische Psychologe K. Anders Ericsson von der Florida State University, USA, ging Anfang der 1990er-Jahre sogar so weit zu postulieren, dass ausdauerndes Üben die wichtigste Variable für Erfolg sei. Jeder, der häufig genügt übe, könne die nötigen Fähigkeiten erlangen, um in seinem Bereich – sei es Musik, Handwerk, Sport – zu den Besten zu gehören. Der Journalist Malcom Gladwell spitzte diese These weiter zu: In seinem 2008 erschienenen Bestseller „Überflieger: Warum manche Menschen erfolgreich sind – und andere nicht“ schreibt er, um in einer Sache Weltniveau zu erreichen genüge es, sich ihr 10 000 Stunden lang zu widmen.
Als Paradebeispiel für Gladwells 10 000-Stunden-These gilt die Familie Polgár. Der ungarische Pädagoge László Polgár war sich sicher, dass jedes gesunde Kind ein potenzielles Genie ist. Und noch bevor er 1965 seine spätere Ehefrau kennenlernte und mit ihr Kinder hatte, beschloss er, seinen Nachwuchs zu Meistern eines Fachs zu machen. Welches Fachs, war ihm dabei erst einmal egal. Polgár bekam drei Mädchen und brachte ihnen Schach bei. Sein Engagement war unermüdlich: Er unterrichtete die Töchter zu Hause, er kaufte jedes Schachbuch, schnitt jede Schachkolumne aus der Zeitung aus. Und tatsächlich: Alle drei Töchter wurden zu Großmeistern. Judit Polgár gilt heute noch als weltbeste Schachspielerin der Geschichte.
Ist Talent also doch nur eine Frage der frühkindlichen Förderung und nicht der Gene? Kann man sein Kind aktiv zu einem Genie machen? Das fragten sich auch die Leser von Gladwells Buch. Eine Gegenbewegung von Wissenschaftlern betonte allerdings weiterhin, dass Vererbung und andere Faktoren genauso wichtig seien. Und bis heute ist man sich nicht einig, worauf überdurchschnittliches Talent in einem bestimmten Bereich tatsächlich basiert.
Eine mit argentinischen Schachspielern durchgeführte Studie widerlegte dann schließlich Gladwells These: Während ein Schachspieler nach 3000 Stunden Schach auf Meisterniveau kam, brauchte ein anderer 23 000 Stunden, und manche erreichten dieses Niveau überhaupt nicht, obwohl sie mehr als 25 000 Stunden investiert hatten. Es gibt also wohl doch keine Garantie dafür, dass jeder bis an die Spitze kommen kann.
„Die Begabung ist etwas, was einem in die Wiege gelegt ist. Und wovon man irgendwann 100 Prozent erlangen kann. Es gibt aber keine Förderung darüber hinaus“, sagt Psychologe Bestmann. „Ich kann einen Grashalm nicht durch Ziehen zum Wachsen bringen, sondern nur durch Gießen und Düngen. Eltern sollten sich selbst gut beobachten: Wann fange ich an zu ziehen? Dann lässt man die Finger lieber weg.“
Bis sie allerdings ihr ganzes Potenzial ausgeschöpft haben, brauchen fast alle Kinder Hilfe, sich immer wieder aufs Neue zu motivieren. Mal kurz nachgerechnet: Um auf die berühmte Stundenzahl von 10 000 zu kommen, auch wenn die nicht jeden zum Meister machen, müsste man zehn Jahre lang jeden Tag knapp drei Stunden üben. Meine Tochter Milla lernt seit knapp einem Jahr Klavier. Es gefällt ihr. Doch ich schätze, dass sie in der ganzen Zeit, wenn es hoch kommt, fünf Stunden zu Hause geübt hat. Mein großer Fehler dabei ist anscheinend mein geringer Einsatz. Nur alle paar Tage fällt mir ein, dass Milla sich mal wieder ans Klavier setzen könnte. Dann sage ich: „Spiel doch mal!“ – und verschwinde in die Küche oder woandershin. Bens Eltern hingegen sitzen fast immer dabei, wenn ihr Sohn spielt. Sie loben, zeigen Interesse an dem, was er gerade einstudiert: „Ist doch auch schöner, wenn jemand zuhört.“

Elterliches Lob kann bei Kindern anfangs viel ausrichten. Wird das „Gut gemacht“ mal langweilig, darf man auch mit etwas Materiellem nachhelfen. Ben erinnert sich an Sammelbildchen, die er geschenkt bekommen hat. Da man aber lobende Worte und kleine Geschenke nicht endlos steigern kann, muss irgendwann die Freude an der Sache selbst Motivation genug sein. Die Kinder tun etwas, weil es ihnen Spaß macht. Und dann beginnt im besten Falle ein Kreislauf von Erfolg, Motivation und Arbeit.
Häufig reichen Eltern ihre Begeisterung für ein Thema an den Nachwuchs weiter: Die Mutter fotografiert gern und schenkt der Tochter ihre erste Kamera, der Tennis spielende Vater meldet den Sohn in seinem Klub für eine erste Unterrichtsstunde an. So ist Förderung auch noch gemeinsam verbrachte Zeit.
Ob die Begeisterung dann allerdings langfristig andauert, muss man abwarten: „Ist das Kind in einem Alter, in dem es die Eltern kopiert und möglichst viel Zeit mit ihnen verbringen möchte, wird es wahrscheinlich mit dem Hobby aufhören, sobald es sich von den Eltern abnabelt“, so Pädagogin Reimann-Höhn.
Ich habe mich bei meiner Tochter ganz bewusst in die Talentförderung eingemischt. Milla ist klein, zierlich, schüchtern und steht so ungern im Mittelpunkt, dass man sie nur schwer verstehen kann, wenn sie in der Schule ein Referat hält, weil sie dabei so leise spricht. Als sie sagte, sie wolle Geige lernen, und bereits recht erfolgreich im Ballett war, steuerte ich gegen. Ich bot ihr an, einen expressiven Hip-Hop-Kurs zu belegen. Ganz nach dem Motto: Schwächen ausgleichen statt Stärken stärken. Sie war nicht dagegen. Trotzdem hatte ich bislang immer ein schlechtes Gewissen deshalb. Denn vielleicht habe ich sie von ihrem eigenen Weg abgelenkt, die Entfaltung ihrer Talente behindert.
„Letztlich müssen Sie die Entscheidung für Ihr Kind treffen“, beruhigt mich Reimann- Höhn. Und solange meine Tochter auch Spaß beim Hip-Hop habe, sei das vollkommen okay. „Schließlich geht es auch darum, dass das Kind Neues ausprobiert und sich auch mal durchbeißt.“ Eltern sollten die Hobbys ihres Kindes danach auswählen, was es persönlich weiterbringt, was den Grundstein legt für Selbstvertrauen und Wagemut: Ich wusste ja gar nicht, was ich alles kann! Ob dabei ein Ausnahmetalent zum Vorschein kommt oder nicht, sollte völlig egal sein.
Eltern eines Wunderkinds zu sein ist nicht nur Stolz und Vergnügen. Es kostet Zeit, Kraft und Geld. Bens Mutter begleitet ihren Sohn zu allen Konzerten und Wettbewerben, sagt dafür häufig eigene Konzerte ab. „Das sind Kompromisse, die man machen muss“, sagt sie. Weil Ben jetzt in Weimar aufs Musikgymnasium geht, hat die Familie dort eine Zweitwohnung gemietet. Ihre Wohnung in Chemnitz mussten sie verkleinern. Sind alle Familienmitglieder am Wochenende zu Hause, wird es eng.
Und auch für die Geschwister ist es nicht leicht, wenn die Schwester oder der Bruder für eine Begabung sehr viel Aufmerksamkeit bekommt. Würde man das für sich und seine Familie überhaupt wollen? Vor allem, wenn man bedenkt, dass niemand weiß, ob das Kind am Ende wirklich den Erfolg haben wird, den es sich erhofft und den man ihm wünscht. Oder ob nicht später in der Pubertät Computerspiele dann doch cooler sind als Cello, Make-up wichtiger als Mountainbiken.
Und auch wer versucht, seine Kinder mit Blick auf berufliche Chancen zu fördern, bemüht sich wahrscheinlich vergeblich. Denn ob die Qualifikationen, die wir heute fördern, in zehn Jahren überhaupt noch gebraucht werden, weiß niemand. Die Arbeitswelt verändert sich grundlegend; womöglich werden Algorithmen bald viele Jobs übernehmen. „Jeder, der sich nicht aus eigenem Antrieb mit etwas beschäftigt, sondern etwas nur macht, weil er muss, verrichtet eine Tätigkeit, die auch durch einen Automaten ersetzt werden kann und wird“, sagt Gerald Hüther voraus.
Durchsetzen wird sich in dieser Zukunft dann nur, wer früh gelernt hat, was ein Roboter nie lernen kann: Neugier, Begeisterung und die kindliche Lust am Machen.



Talente richtig einschätzen

Nein, diese Checkliste wird Ihnen nicht verraten, ob Sie den nächsten Einstein oder eine zweite Anne-Sophie Mutter großziehen. Sie kann aber einen Hinweis darauf geben, in welchem Bereich ein Kind besondere Fähigkeiten hat. Wo Sie besonders oft ein Häkchen machen, steckt womöglich ein Talent


DENKEN UND PHILOSOPHIEREN

Das Kind …
• entwickelt viele Ideen und Lösungen für Probleme
• akzeptiert Meinungen von anderen erst nach kritischer Prüfung
• zeigt in einzelnen Bereichen (Dinosaurier, Fußball, Harry Potter …) ein sehr hohes Detailwissen
• erfasst sehr schnell Ursache-Wirkung-Beziehungen, z. B. fällt jemand hin, weil es geregnet hat und der Boden glitschig ist
• stellt viele Fragen und beschäftigt sich ausdauernd mit Begriffen wie Recht und Unrecht oder Gut und Böse
• macht sich Gedanken über Leben und Tod und andere philosophische Fragen
• neigt dazu, Situationen bestimmen zu wollen


SPRECHEN UND LESEN

Das Kind …
• verfügt über einen großen Wortschatz. Normale Zweijährige sagen etwa 200 Wörter und steigern das bis zum Beginn der Grundschule um das Zehnfache. Bei sprachbegabten Kindern ist der Wortschatz mindestens doppelt so groß
• zeigt schon vor dem vierten Lebensjahr eine besondere Sprachbeherrschung. Es bildet korrekte Sätze, spricht fließend, verwendet Vergleiche, hat Freude am Erzählen von Geschichten (wahren und erfundenen)
• spricht unterschiedlich mit jungen und alten, bekannten und unbekannten Menschen
• hat einen großen Lesehunger: Bücher werden verschlungen. Oder es lässt sich pausenlos vorlesen
• zeigt große Freude am Reden und am Spiel mit Wörtern, variiert deren Aussprache, experimentiert mit Klängen


MALEN UND ZEICHNEN

Das Kind …
• zeichnet sehr viel und sehr gern. Seine Fähigkeiten durchlaufen die normalen Kritzeleien, Kreise und geometrischen Figuren
und mehr oder weniger verbundene Körperteile. Begabte Kinder zeichnen quasi pausenlos
• zeigt eine besondere Beobachtungsgabe, erinnert sich gut an visuelle Eindrücke
• besitzt räumliche Vorstellungskraft, weiß, wie es aussieht, wenn man einen Gegenstand in seiner Lage verändert, welche Seite oben oder unten ist


MUSIK MACHEN UND SINGEN

Das Kind …
• zeigt bereits mit etwa sieben Monaten
Freude am „musikalischen“ Plappern, Lallen,
Singen und macht schon ab etwa
zwölf Monaten erste „Tanz“-Bewegungen
zur Musik
• hat schon vor dem 18. Lebensmonat spielerische
„Eigenkompositionen“ gemacht, mit Lauten, Tonfolgen, Intervallen experimentiert
• hat bereits mit etwa zwei Jahren Freude
am Singen und kann Lieder nachsingen
• findet auf einer Flöte oder einem Klavier
Tonfolgen von Melodien
• reagiert auf Musik, d. h. Musik kann seine
Stimmung beeinflussen
• erkennt Melodien wieder, die es nur einoder
zweimal gehört hat


TECHNISCH UND LOGISCH DENKEN

Das Kind …
• stellt unermüdlich die Warum-Frage
• grübelt gern über Gedankenexperimenten wie „Was wäre, wenn …?“, z. B. „Was wäre, wenn es immer gleich warm wäre?“
• probiert einen Experimentierkasten, ein Mikroskop aus, macht „Erfindungen“
• interessiert sich schon vor dem Alter von vier oder fünf Jahren für Zahlen und zählt mit Begeisterung
• kann Reihenfolgen erkennen, etwa die Bilder einer Geschichte richtig sortieren
• stellt Fragen, wie etwas funktioniert, und möchte zusehen, wenn etwas repariert wird


MITFÜHLEN UND SICH EINFÜHLEN

Das Kind …
• schwingt sehr mit den Gefühlen anderer mit, weint oder lacht aus Anteilnahme, beobachtet, wie andere Menschen miteinander umgehen; ahmt gern Verhaltensweisen nach. Es tut gern etwas für andere und bevorzugt solche Rollen im Spiel
• erklärt gern und gut, weil es sich in den anderen hineinversetzen kann
• hat einen starken Gerechtigkeitssinn und hohe moralische Ansprüche, setzt sich schon früh mit Gut und Böse, Recht und
Unrecht auseinander
• zeigt soziales Engagement, möchte z. B. häufig armen Menschen etwas schenken
• zeigt sich aufgewühlt und betroffen, wenn irgendwo ein Unglück passiert ist
• sorgt dafür, dass andere nicht benachteiligt werden
• kümmert sich um kleinere Kinder
• kann gut planen, strukturieren und organisieren, auch in der Kooperation mit Menschen (Führungsverhalten)


SPORTLICH UND GESCHICKT SEIN

Das Kind …
• kann schon im Kleinkindalter gut mit einem Ball umgehen
• lernt rasch Bewegungsabläufe
• kann sein eigenes Körpergewicht an einer Turnstange (in Augenhöhe angebracht) hochziehen
• hält auf Inlineskates und Schwebebalken das Gleichgewicht
• ist täglich wenigstens zwei, drei Stunden körperlich aktiv
• kann die Bewegungen einzelner Körperteile miteinander gut koordinieren oder unabhängig voneinander durchführen (z. B. zugleich mit der Hand andere Bewegungen machen als mit dem Fuß)
• zeigt Geschick in der Balance, Haltung, Geschmeidigkeit – etwa beim Tanzen, Turnen, Ballett – aber auch in der Bewegungsnachahmung, der Mimik, der Pantomime, dem Rollenspiel